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Wieder waren da Hände, die sie auflasen, sie zurück ins Gästehaus trugen und in ihr Bett legten. Man deckte sie zu, sprach mit ihr, strich ihr über die Wangen. Nichts von dem schenkte sie Beachtung. Sie hörte die flüsternden Stimmen um sich herum, fühlte die sanften Berührungen an ihrem Arm, wenn eine Hand sich tröstend auf diesen legte. Doch mit aller Macht schloss sie diese Empfindungen aus ihrem Geist aus, wollte nicht, dass sie real waren, wollte nichts von dieser Welt wissen. Wollte keine Welt akzeptieren, in der Nicolas nicht bei ihr war.

Sie wusste nicht, wie lange sie eingerollt unter der Bettdecke gelegen hatte. Dieselbe Bettdecke, die sie mit Nicolas geteilt hatte.

»Melissa.«

Sie reagierte nicht. Es würde nichts verändern, es würde nicht helfen. Nichts half ihr mehr.
»Melissa«, sagte jemand sanft. Die Stimme sollte verschwinden. Sie störte.

»Melissa, hörst du mich?« Jetzt sprach diese Stimme mit Nachdruck. Melissa kannte sie. Sie hatte sie hunderte Male zuvor gehört. Es war Tara, Tara redete mit ihr. Warum ging sie nicht weg?

»Melissa!«, erklang es fordernder und deutlich lauter. »Wach auf.«

Sie konnte nicht aufwachen. Sie war schon wach. Irgendwie. Nun, zumindest schlief sie nicht. Aber ganz in dieser Welt befand sie sich ebenfalls nicht. Ihr Geist schwebte durch eine merkwürdige Zwischenwelt, hatte sich weit in sich selbst verzogen. An einen Ort, wo es möglich war zu existieren, ohne vollkommen zerrissen zu werden, ohne diesem glühenden Schmerz hilflos ausgeliefert zu sein. Nein, sie wollte nicht zurückkommen. Sie würde bleiben, wie sie war. Für immer.

»MELISSA!« Deutlich verärgert rief Tara nun ihren Namen und zog damit an Melissas verirrten Geist. Zog ihn zurück in die Realität, mitten in den Schmerz hinein. Melissa stöhnte auf.

»Lass ihr noch etwas Ruhe«, flüsterte Adam leise. »Wir sehen später wieder nach ihr.« Ihn hätte Melissa ignorieren können.

»Ausgeschlossen. Sie hat sich lang genug zurückgezogen. Jetzt muss sie sich der Wahrheit stellen. Und etwas Trinken, sonst dehydriert sie uns völlig.«

Entschlossen griffen Hände nach ihren Oberarmen und zogen sie hoch. Sie versuchte sich aus dem Griff zu winden – vergeblich.

Eine Hand tätschelte aufmunternd ihre Wange. »Mach die Augen auf. Ich weiß, dass du uns hörst. Hier, trink das.« Etwas Kühles presste sich an ihren Mund und Wasser benetzte ihre Lippen. Sie war so ausgedorrt. Sie musste seit Stunden nichts getrunken haben, vielleicht einen ganzen Tag. Dennoch drehte sie ablehnend den Kopf weg und hielt die Augen geschlossen.

Finger ergriffen ihr Kinn und wendeten ihren Kopf zurück. Wieder wurde etwas gegen ihre Lippen gepresst. Sie wimmerte.

»Wenn du willst, dass ich dich in Ruhe lasse, dann trink.«

Tara würde gehen, wenn sie trank? Okay, wenn das der Preis war ... Widerwillig nahm sie einige Schlucke. Sofort entspannte sich ihre ausgedörrte Kehle und gurgelnd floss das Wasser in ihren Magen. Sie wollte nicht zugeben, wie wohltuend es sich anfühlte. Fast machte es sie wütend, dass es etwas gab, dass sich so willkommen anfühlte, in einer Welt, die doch sonst nur aus Qual bestand.

»Na siehst du, geht doch. Und gleich noch einmal.« Wieder berührte das Glas ihren Mund und sie schluckte, jetzt gieriger.

»Das reicht für den Anfang. Wenn du etwas essen möchtest oder mit jemanden sprechen, weißt du, wo du uns finden kannst.« Sanft streichelte Tara über ihr Haar, bevor Schritte sich entfernten und eine Tür sich schloss.

Melissa fühlte sich aus ihrer Zwischenwelt gerissen. Alles war wieder da. Alle Erinnerungen – und die gesamte Verzweiflung. Erneut zog sich das unsichtbare Band um ihre Brust zu, nur mit großer Anstrengung gelang es ihr, dagegen anzuatmen. Was sollte sie jetzt tun? Wie sollte sie das hier ertragen?

Sie konnte sich nicht vorstellen, wie sie diesen Tag überstehen sollte, oder auch nur diese Stunde. Doch sie hatte keine andere Wahl, als sich der Realität zu stellen.

Zögernd öffnete sie die Augen.

Nichts hatte sich verändert. Der Raum sah immer noch genauso aus, wie das letzte Mal, als sie hier gewesen war. Als sie mit Nicolas in diesem Bett gelegen hatte.

Und dabei hatte sich alles verändert.

Er war fort.

Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen und erneute Schmerzwellen erschütterten ihren Körper und trieben Tränen in ihre rotgeschwollene Augen.

Nein. Sie musste sich zusammenreißen. Sie konnte sich nicht immer und immer wieder mitreißen lassen. Es würde besser werden. Mit der Zeit.

Heiser lachte sie auf. Wem machte sie etwas vor? Sie glaubte sich selbst kein Wort.

Nicolas hatte sich aus ihrem Leben herausgerissen, brutal und rücksichtslos und sie als hilflose Hülle zurückgelassen.

Er hatte ihr gesagt, sie wäre stark, sie könnte alleine zurechtkommen – wie hatte er sich so irren können? Ob er seinen Weggang bei diesen Worten schon geplant hatte? Hatte er sie vorbereiten wollen auf das, was kommen würde?

Er hatte ihr gesagt, dass er sie liebte. War das ein Scherz gewesen? Oder dachte er, es würde ihr alles leichter machen? Jede Faser ihres Körpers schrie qualvoll auf bei der Erinnerung. Er hätte es besser nicht gesagt. Ohne diese Worte hätte sie es leichter ertragen können. Bestimmt.
Vielleicht – Oder auch nicht.

Die letzten Tage waren die besten ihres Lebens gewesen. Sie hatte sich angekommen gefühlt. Zum ersten Mal seit dem Weggang ihrer Mutter glaubte sie wieder einen Platz im Leben zu haben und eine Familie, zu der sie gehörte. Und genau jetzt entschied Nicolas, dieses zu zerstören. Melissa begriff es nicht, egal wie sehr sie es versuchte.

Und doch, sie hatte seine Zweifel gespürt und seine Ängste gekannt. Er hatte mit ihr darüber geredet. Warum hatte sie es dennoch nicht kommen sehen? Wie hatte sie so blind sein können? Ihre eigenen Zweifel hatte er alle zerstreut und zu nichts zerfallen lassen. Er war gut darin. Bis sie fest davon ausgegangen war, dass sie alles überwinden könnten.

Und dann war er gegangen.

Zufällig fiel ihr Blick in die Zimmerecke und sie erstarrte. An der Garderobenstange hing noch immer Nicolas Mantel. Deutlich war der rote Drache zu erkennen, der sich fast über das gesamte Rückenteil und ein kleines Stück um die Hüftpartie wand. So oft hatte sie Nicolas in diesem Mantel gesehen, ihn darin liebevoll umarmt und geküsst. Sie selbst hatte diesen Mantel getragen, nachdem er sie aus den eisigen Wellen gezogen und ihr beim Entkleiden geholfen hatte. Und als sie in seinem Auto erwacht war, im Glauben ihn für immer verloren zu haben.

Geradezu magisch zog dieser Mantel jetzt ihre Aufmerksamkeit auf sich, rief sie und lud sie ein, ihn anzuziehen und sich in ihn einzuwickeln. Sie wollte seinen Geruch um sich haben und den letzten Hauch seiner Nähe spüren, das letzte bisschen Nicolas, dass ihr geblieben war. Sie streckte ihre Hand aus und fast berührte sie das Kleidungsstück, als sie erstarrte.

Nein. Es würde Nicolas nicht zurückbringen. Nichts würde dieser Mantel ihr erleichtern. Zitternd starrte sie den Drachen an. Dieser blickte ausdruckslos zurück – nein, er verhöhnte sie geradezu.
Sie musste raus. Dringend musste sie dieses Zimmer verlassen. Plötzlich kam ihr der Raum winzigklein vor, wie war es ihr nur bisher gelungen, hier zu atmen?

Ihr letzter Funken Verstand befahl ihr, zu ihrem eigenen Mantel zu greifen und zu flüchten.

♥︎Bad Salvation♥︎ - The Girl With The VampireWhere stories live. Discover now