112

323 24 148
                                    

Die kühle Nachtluft trug den Duft von Kiefern und feuchtem Moos zu ihr, als Melissa mit zitternden Fingern über das glatte Holz der Eingangstür strich. Nur zögernd betrat sie das vertraute Holzhaus zwischen den flüsternden Bäumen. Es war, als würde sie nach einer endlosen Odyssee heimkehren, und doch fühlte sich alles schmerzlich fremd an. Eine grausame Leere erfüllte jeden Winkel.

Nicht nur die Abwesenheit von Tara und Amia lastete auf ihrem Herzen, sondern vor allem der Gedanke an Adam schnürte ihre Kehle zu. Nie wieder würde er seinen Fuß über diese Schwelle setzen. Nie wieder würde sein warmes Lachen durch diese Räume hallen. Er würde seine Schwester nicht mehr liebevoll necken oder mit Melissa das Abendessen vorbereiten. Das belustigte Funkeln in seinen braunen Augen war für diese Welt auf ewig verloren.

Nicolas musste gespürt haben, was sie dachte. Ohne zu zögern trat er dicht hinter sie, legte seine Arme um ihre Brust und zog sie sanft an sich heran. Wie ein schützender Kokon umgab er sie. Auch sein Herz stolperte in einem gebrochenem Rhythmus, vollkommen aus dem Takt geraten. Sie lehnte sich an ihn, nicht um den Schlägen zu lauschen – ihre Vampirohren vernahmen sie auch aus einiger Entfernung – sondern um seine Wärme zu spüren, sich von seinen Armen einschließen zu lassen und in seinem Duft zu baden. Um ihn zu spüren. Ihren Anker in diesem Strudel aus widersprüchlichsten Emotionen, ohne den sie restlos den Halt verlieren würde.

Nichts hätte sie darauf vorbereiten können, dass es möglich war, die größte Freude und tiefste Trauer gleichzeitig zu verspüren. Ein Teil von ihr sehnte sich danach, sich selig in Nicolas' Armen wiegen zu lassen, seine Nähe einzuatmen. Gleichzeitig wollte ein anderer Teil sich in der dunkelsten Ecke verstecken und hemmungslos weinen. Und dann war da noch dieser verborgene, dunkle Teil ihres Wesens, der nach Rache schrie, der Lia in Stücke reißen wollte für das, was sie Adam angetan hatte – was sie ihnen allen angetan hatte. Und dennoch atmete das Mädchen nur noch, weil Melissa Nicolas flehentlich darum gebeten hatte.

Nein, nicht Nicolas hatte Lia verschont. Sie selbst war es gewesen, die Gnade vor Rache gestellt hatte. Doch gleichzeit war sie es auch, die an diesem verhängnisvollen Tag getötet hatte. Es war nicht so, dass sie Sarah ein leichteres Ende gewünscht hätte, aber der Schock, dass sie selbst der jungen Frau das Leben genommen hatte – der sie ausgesaugt hatte wie ein Monster – saß tief. Nie wieder würde sie von dem Bild, das sie von sich hatte, diese Schuld abwaschen können. Noch unerträglicher wurde diese Erkenntnis durch die Tatsache, dass sie, als sie hungrig im Wald lag, auch einen unschuldigen Menschen getötet hätte, wäre er ihr zu nahegekommen.

Es war nicht die Wut auf Sarah, nicht die Taten, die diese begannen hatte, sondern einzig ihr verlockender Blutgeruch gewesen, der das Todesurteil der jungen Frau besiegelt hatte. Melissa hatte ihren neuerworbenen Instinkten nicht zügeln können. Sie versuchte sich einzureden, dass es die Richtige getroffen hatte – doch es blieb ein bitterer Nachgeschmack. Sie glaubte sich selbst nicht.

Nicolas verließ den Raum, um den Kofferraum auszuladen. Gedankenversunken ließ Melissa sich auf einen der Küchenstühle sinken und strich mit der Hand über die Tischplatte. Eine dünne Staubschicht hatte sich während ihre Abwesenheit gebildet. Sie klopfte gedankenverloren ihre Finger ab, als Nicolas wieder den Raum betrat, und jemanden vor sich herschob. Melissa stockte mitten in der Bewegung.

Nicolas zwang Lia, sich auf die Couch zu setzten, möglichst weit entfernt von ihr. Dennoch konnte sie ihren Blick nicht von dem zitternden, bleichen Wesen wenden, das ohne Bedenken den unschuldigsten Vampir auf diesem Planeten verbrennen lassen hatte. Diesmal war es nicht der Geruch, der sie dazu aufrufen wollte, Lia die Kehle aufzureißen. Diesmal war es das Gefühl, irgendetwas tun zu müssen, um den lodernden Hass in ihren Inneren zu bändigen.

Sie wollte es so sehr, dass es schmerzte. Aber sie konnte es nicht. Alleine der Blick auf das blonde Mädchen ließ ihre Fingernägel tief in ihre Handflächen krallen, doch anstatt, dass sie ihren noch immer vorhandenen Durst, der weiter in ihr tobte, an Lias verdreckten Hals stillte, drückte sie sich zurück in ihren Stuhl. Als würden die wenigen Zentimeter Abstand einen Unterschied machen.

♥︎Bad Salvation♥︎ - The Girl With The VampireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt