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»Ein Baum war dir offenbar nicht genug«, knurrte Nicolas. Kritisch blickte er die fast senkrechten Klippen hinunter. Sie befanden sich ein Stück entfernt von der Stelle, an der sie den Tag mit Amia verbracht hatten. Die spitzen Felskanten waren hier steiler und höher, der Sandstrand nur ein schmaler Streifen. An dieser Stelle gab es für sie keinen Weg, unbeschadet hinunter zu klettern.

Starke Böen peitschte ihr ins Gesicht und wirbelte ihre Haare wild durcheinander. Weiter im Landesinneren war der Wind friedlicher gewesen und hatte ihre Aufmerksamkeit kaum erringen können. Hier prickelte er auf der Haut. Das Meer toste noch stärker als bei ihrem letzten Besuch und sie konnte das Salz in der Luft schmecken.

»Ich bin nicht gerade ein begeisterter Baumkletterer.« Sie schrie fast, damit Nicolas sie verstand.  Hätte er ihr mit seinen Vampirohren auch in normaler Lautstärke folgen können? Sie konnte es sich schwer vorstellen, bei dieser Geräuschkulisse.

Es hatte sie einiges an Überredungskunst gekostet, Nicolas zu bewegen, bei ihrem Plan mitzuspielen.

»Also gut. Aber wir versuchen das nur ein einziges Mal. Und du bleibst hier stehen und rührst dich nicht von der Stelle, bis ich unten angekommen bin. Warte auf mein Kommando.« Nicolas begann sich vorsichtig die unwirtlichen Felskanten hinabzuhangeln.

»Dann zeig mal, was du drauf hast. Wie schnell kannst du unten sein? Ich habe keine Lust, ewig zu warten.« Herausfordernd grinste sie ihn an, aber in Wahrheit schlug ihr das Herz bis zum Hals. Hörte er das nicht? Die Brandung spielte ihr vortrefflich in die Karten.

»Du unterschätzt mich.« Seine Mundwinkel zuckten kurz, dann machte er sich Stück für Stück an den Abstieg.

Nicolas' Handbewegungen waren ruhig und zielgerichtet, als er sich geschmeidig die Felsen hinabbewegte. Dabei hielt er sich an so winzigen Felskanten fest, wie es einem Menschen niemals möglich gewesen wäre. Wie konnte jemand dermaßen große Kraft in einem einzelnen Finger haben? In keinem Moment zuvor war ihr bewusster gewesen, mit was sie es zu tun hatte, als in diesem, in dem sie Nicolas beim Klettern beobachtete. Wie ein Schatten glitt er Meter um Meter die steile Wand hinab. Aber zu welcher Leistung war er tatsächlich in der Lage?

Es vergingen kaum zehn Sekunden, bis er die erste Hälfte der Strecke überwunden hatte. Gleich würde er den Strand erreicht haben. Doch wenn sie wartete, bis er unten angekommen war, wäre es keine Rettung. Er wäre nur ein weiteres Spiel, eine weitere Inszenierung. Die Magie würde sich schieflachen.

Melissas Handflächen waren klitschnass und das Atmen fiel ihr schwer. Inständig hoffte sie, dass sie Nicolas nicht überschätzte. Sie zählte von zehn rückwärts.

Bei sieben ließ sie sich mit geschlossenen Augen nach vorne fallen.

Kurz bevor ihre Füße den Kontakt zum Untergrund verloren, vernahmen ihre Ohren ein gequältes Fluchen, ein merkwürdig abgehackter Schrei, dann wurde jedes Geräusch vom vorbeisausenden Wind übertönt, während sie kopfüber in die Tiefe fiel. Ihr rasender Herzschlag schien sich bis in ihre Fingerspitzen und Zehen auszubreiten. Sie bereitete sich auf den Aufprall vor, der unweigerlich kommen würde, falls Nicolas die zweite Hälfte seines Abstieges nicht in drastisch schnellerem Tempo als die erste bewerkstelligen konnte.

Sie landete hart in stählernen Armen.

Einzig das Adrenalin, welches ihren Körper flutete, sorgte dafür, dass der Aufprall kaum schmerzhaft war. – Aber sie war unverletzt davongekommen, abgesehen von einigen Blutergüssen, die sich unweigerlich einstellen würden.

Sie hatten es geschafft!

Wild keuchend versuchte sie  wieder Herr über ihre Sinne zu werden.

Nicolas hatte sie perfekt aufgefangen und hielt sie fest an sich gepresst, doch ihr Puls raste noch immer und wollte sich nicht beruhigen. Ihr Kopf war an seinen Oberkörper gepresst, ihre rechte Wange lag auf dem weichen Wollstoff seines Mantels, darunter konnte sie seine harte Brust spüren – und noch etwas: Nicht nur ihr Herzschlag raste, sondern auch Nicolas'. Überrascht spürte sie das hektische Wummern durch seine Kleidung und registrierte seinen gehetzten Atem, als hätte er einen ihm alles abverlangenden Sprint hinter sich gebracht.

♥︎Bad Salvation♥︎ - The Girl With The VampireDove le storie prendono vita. Scoprilo ora