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Verflucht nochmal. Es war alles schiefgegangen, was hätte schiefgehen können.

Eine unverbindliche Einladung zum Abendessen sollte es sein, aber artete in bittere Vorwürfe seitens Melissa aus, die ihn kalt erwischten. Er hatte in dieser komplexen Situation zuvor nicht vollständig erkannt, welche verschiedenen Probleme sie hatte, da Adam und Tara sich gut um sie gekümmert hatten. Ihm war gar nicht in den Sinn gekommen, welche Auswirkungen der Zauber auf sie hatte. Nicht nur alle ihre Besitztümer hatte sie zurücklassen müssen, sondern ebenfalls ihre Unabhängigkeit – zumindest ihre finanzielle. Und nachdem er das erkannte, drückte er ihr das Geld in die Hand, als wäre ihre Rolle bei der Rettung seines Lebens damit abgegolten. Dabei war es unmöglich, diese Schuld jemals abzutragen, und er hasste dieses Wissen. Schon alleine deshalb würde er Melissa niemals anrühren, völlig egal, wie verführerisch ihr Herz wummert und ob er Amia ein Versprechen gegeben hatte oder nicht. Schlicht, weil er es ihr schuldete.

Ihrem Gesichtsausdruck nach dem Blick in die Brieftasche zu urteilen, hatte er ziemlich übertrieben und einen Moment rechnete er damit, dass sie es ihm zurückgeben würde.

Glücklicherweise behielt sie das Geld – sie hatte es verdient. Sein Leben war mehr wert, als ein paar Scheine.

Und ebendiese Scheine wusste sie ausgezeichnet zu nutzen – was Nicolas feststellen durfte, als er sie zum Essen abholen kam. Es war der erste Schock des Abends.

Nichts hätte ihn auf Melissas Anblick vorbereiten können. Obwohl sie sich bislang eher im Alltagslook gezeigt und Taras Kleidung ihr nicht recht gepasst hatte, war es Nicolas schwergefallen, über ihr anziehendes Äußeres hinwegzusehen. Aber in dem neuen, cremeweißen Kleid, das ihre Rundungen weich umhüllte und ihre schlanke Figur perfekt zur Geltung kommen ließ, war es ihm unmöglich. Ihre bislang stets zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenen Haare flossen ihr in offenen, blutroten Wellen Schultern und Rücken hinunter und ihr milchweißes Gesicht strahlte mit kristallblauen Augen daraus hervor. Seltsam zurückhaltend wirkte sie. Und diese vereinzelten Sommersprossen, die ihre Nase umspielten ... Das dezente Make-up unterstrich ihre natürliche Schönheit zusätzlich und er konnte gar nicht anders, als sie gebannt anzustarren. Schon da waren ihre Wangen vor Aufregung anziehend gerötet, alles untermalt vom hektischen Wummern ihres Herzens. Und sie wirkte so grenzenlos unschuldig.

Ungebremst triggerte Melissa seinen Beschützerinstinkt, ohne dass sie sich dessen auch nur eine Sekunde bewusst war.

Aber da war noch etwas, das er nicht benennen konnte. Nicht benennen wollte ...
Sein Mund wurde trocken bei der Erinnerung daran, wie sie in ihren roten Mantel schlüpfte und ihre nahezu gleichfarbigen Haare über diesen ausbreitete ... stöhnend versuchte er ihr Bild beiseitezuschieben.

Er hielt es nie für eine kluge Idee, zu lange in der Nähe einer Frau zu verweilen. Das bedeutete nur Ärger. Und etwas in ihm flüsterte, dass Melissa ihm große Probleme bereiten könnte. 

Niemals hätte er sie einladen dürfen, sondern immer klar Abstand halten müssen. Und das war ihm bewusst, seit er sie ohnmächtig im Wald neben dem Feuer liegen sehen hatte. Aber was er damals vollbracht hatte – sich von ihr abzuwenden und Distanz zu bewahren – fiel ihm jetzt zusehends schwerer.

Das Abendessen verlief wie erwartet: das Gespräch verkrampft, doch letzten Endes entspannte Melissa sich. So weit sein Plan.

Das sie in Tränen ausbrach, kam jedoch unerwartet und sein holpriger Trostversuch war völlig unangebracht. Es war nicht seine Aufgabe, sie vor ihren inneren Dämonen zu retten. Aber dieser Anblick, wie funkelnde Tränen ihre zarten Wangen hinabglitten ... Stopp! Seine Gedanken waren schon wieder dabei falsch abzubiegen.

Und dann fing sie schließlich an, im Takt der Musik zu wippen, nur ganz leicht, erst kaum wahrnehmbar. Ihr Gesichtsausdruck zeugte davon, dass sie weit weg war, in einer parallelen Wirklichkeit und ein lang vermisstes Lächeln lag auf ihren roten Lippen. Er forderte sie zum Tanz auf, ohne auch nur darüber nachzudenken, was er da tat. Ab da lief alles aus dem Ruder. Es fühlte sich so perfekt an, mit ihr über die Tanzfläche zu wirbeln, sie eng an sich zu drücken und dabei ihre Hand in seiner zu halten - ihren Körper zu berühren, ihre Wärme zu spüren, ihren verlockenden Duft zu inhalieren. Ihre Lippen erschienen ihm wie eine Einladung, nur einen Hauch entfernt von den seinen. Das war der zweite Schock.

Der dritte folgte unmittelbar.

Im Grunde war es pures Glück, dass er von einer großen Dummheit abgehalten wurde. Aber von allen möglichen Wesen auf diesem Planeten, musste es ausgerechnet Kari sein, die diesen intensiven Moment unterbrach.

Nicolas hätte ihr Melissa natürlich unbeeindruckt und ganz beiläufig vorstellen können, wie er es auch mit einer beliebigen Fremden getan hätte. Aber stattdessen manövrierte er sie so schnell wie möglich aus der Gefahrenzone. Nichts hätte Karis Aufmerksamkeit für Melissa besser wecken können als dieses Verhalten.

Aber was wäre die Alternative gewesen? Kari reiste stets in Gesellschaft ihres Hofstaates. Mit Sicherheit war die Stadt voll mit hungrigen Vampiren. Und für diese rekrutierte sie mit Vorliebe reizvolle Menschen, die ihr Gefolge ergänzten, um für kleine Mahlzeiten allzeit bereitzustehen. Melissa wäre weit oben auf Karis Wunschliste gelandet, weil sie alle Blicke auf sich zog – sogar den seinen – und gleichzeitig diese umwerfende Unschuld ausstrahlte. Kari hätte Melissa nie wieder vom Haken gelassen.

Er hatte Melissa so schnell wie möglich fortschaffen müssen, egal wie auffällig er sich dabei verhielt, und obwohl ihm klar war, dass Kari sein Handeln aufmerksam verfolgte. Keine Sekunde lang glaubte sie an sein desinteressiertes Verhalten gegenüber Melissa oder daran, dass sie für ihn nur eine flüchtige Ablenkung war. Er würde Kari klarmachen müssen, dass Melissa keine Option für ihr Gefolge war. Später.

Dass Melissas Solo-Trip mit seinem Wagen ein einziges Desaster war, konnte niemand abstreiten. Wie nur hatte es ihm passieren können, ihr seine Zimmerkarte mit auszuhändigen? Das war ein unverzeihlicher Fehler und auch nicht mit der Stresssituation durch Karis Aufkreuzen zu entschuldigen. Verzweifelt versuchte er zu begreifen, was in Melissa vorgegangen sein musste, dass sie auf den absurden Gedanken kam, ein Auto zu stehlen und damit angetrunken durch die Gegend zu fahren. Es machte einfach keinen Sinn. Noch immer machte ihn die Erinnerung fassungslos. Als er Melissas Fehlen im Hotel entdeckte, glaubte er zunächst an Karis Werk, doch es passte absolut nicht zu der alten Vampirin. Diese würde zunächst abwarten, um herauszufinden, welche Rolle Melissa für ihn spielte. Eine Weile sollte Kari mit dieser Frage beschäftigt sein, konnte er sie selbst doch nicht beantworten.

Kurz nachdem er das Fehlen seiner Autoschlüssel entdeckte, hörte er einige Straßen weiter einen lauten Knall, der ihm Kopfschmerzen bereitete, was ungewöhnlich war, da er in seinem gesamten Vampirdasein noch niemals Kopfschmerzen gehabt hatte. Menschliche Ohren hätten den Knall aus so großer Entfernung nicht wahrnehmen können. Keine Minute später folgte eine Nachricht auf seinem Handy, das er ausnahmsweise einmal nicht im Wagen liegen gelassen hatte – von Kari. Deine unbedeutende Bekanntschaft hatte gerade einen kleinen Unfall in der Meadow Lane. Mit deinem Wagen. Vielleicht möchtest du ihr deine Unterstützung anbieten? Oder sie lieber zur Rechenschaft ziehen für den Schaden? Aber vermutlich langweile ich dich nur mit dieser Information.

Ein paar Flüche ausstoßend, die er niemals in Melissas Gegenwart wiederholen würde, war er dann zu der genannten Stelle geeilt. Er konnte nicht sagen, ob es ihn schockierte, wie schnell Kari über alle wichtigen Vorgänge in ihrer Nähe informiert wurde, oder ob er froh war, dass sie ihrerseits ihn informierte. Beides traf zu. Über seinen Wagen dachte er nicht weiter nach, aber er hegte die schlimmsten Befürchtungen, in welchem Zustand er Melissa vorfinden könnte und malte sich die grässlichsten Bilder aus.

Bei seinem Eintreffen entdeckte er unverzüglich Kari, welche das Schauspiel bereits genüsslich aus dem Hintergrund beobachtete, ohne jedes Interesse daran, ins Geschehen einzugreifen. Seine Reaktion auf die Situation interessierte die Vampirin dafür umso mehr. Alleine sein Aufkreuzen verriet ihr mehr, als ihm lieb war.

Zunächst breitete sich eine gewisse Erleichterung in Nicolas aus, als er Melissa fast unverletzt erspähte, doch diese wurde direkt vom vierten Schock weggewischt.

Der schmierige Typ, der Melissa so unerhört nahe rückte, versetzte ihren Herzschlag in helle Aufregung und Nicolas war klar, woran das lag. Er konnte jedes Wort hören. Dennoch versuchte er, Ruhe zu bewahren, um die Situation gewaltlos, aber bestimmt entschärfen zu können. Doch als er damit beschäftigt war, einen Plan auszuarbeiten, erkannte Nicolas, wo dieser Kerl mit seinen Händen war und ein Schalter in ihm kippte um.

Er bereute nicht, den Mann kalt gemacht zu haben. – Nur, dass er Melissa die Szene nicht ersparen konnte.

♥︎Bad Salvation♥︎ - The Girl With The VampireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt