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Wie ferngesteuert hatte Melissa den Fußmarsch hinter sich gebracht. Als sie den verwaisten Gang im Gästehaus betrat, in dem bis vor kurzem noch die kleine Vampirfamilie gewohnt hatte, konnte sie sich kaum erinnern, wie sie es bis hierher geschafft hatte. Sie schlurfte müde in Richtung ihrer Kammer und kam dabei an dem Gemeinschaftsraum vorbei. Eigentlich hatte sie sich direkt hinlegen wollen, in der Hoffnung möglichst lange zu schlafen, bevor sie den nächsten nichtssagenden Tag entgegentreten musste. Aber jetzt zögerte sie. Ihr Blick glitt über die massive Holztür, die einen Spalt offen stand und die Dunkelheit des Raumes offenbarte. Nie wieder würden sie in diesem alle glücklich zusammen sitzen und lachen. Nie wieder wollte Melissa dieses Zimmer betreten. Sie hatte es sich fest vorgenommen. Doch spielte es jetzt noch eine Rolle? Wenn sie schon auf unbestimmte Zeit in diesem Haus festsaß mit nur sich selbst als Gesellschaft, dann konnte sie auch gleich alle leeren Räume für sich beanspruchen, die Erinnerungen folgten ihr ohnehin überall hin. Oft genug hatte sie versucht, den Gedanken an Nicolas zu entfliehen – vergeblich. Sie befanden sich nicht an Orten, sondern waren fest eingebrannt in ihrem Kopf.

Ohne zu wissen, was sie sich von der Erkundung des Zimmers versprach, schob Melissa die Tür auf, trat ein und schaltete das Licht ein. Nichts schien sich verändert zu haben. Der große Tisch und die Stühle standen noch immer in der Mitte des Raums und warteten auf Besucher. Ein vergessenes Stück Draht von Amias Bastelaktion lag auf der Tischplatte und im Kamin glimmte ein letzter Rest Glut.

Doch es hatte sich alles verändert.

Melissa schritt weiter in den Raum hinein, streifte mit ihrer Hand über zwei der Stuhllehnen und umrundete den Tisch zur Hälfte. Ausdruckslos wandte sie sich einem der Fenster zu und starrte in die Dunkelheit, die ihr nur Schwärze offenbarte.

Was machte sie hier? In die Nacht hinausblicken konnte sie auch von ihrer Kammer aus. Dieser Raum hielt nichts mehr für sie bereit. Sie waren alle fort – sie hätte nicht hereinkommen sollen.

Abrupt drehte sie sich um und wollte den Weg zurück zur Tür entlangeilen, als kühler Baumwollstoff ihre rechte Hand streifte. Melissa erstarrte.

Sie waren nicht alle fort, nicht gänzlich, nicht alles von ihnen. Und plötzlich wusste sie, was in diesem Raum sie so eindringlich angezogen hatte. Wie in Trance hob sie die Hand, löste den weißen Stoff vom Bilderrahmen und sah zu, wie das Gewebe zu Boden glitt.

Reglos musterten Nicolas' grüne Augen sie mit viel zu ernstem Blick unter ungewöhnlich kurzen Haaren. Und doch – er wirkte so lebendig, als würde er wahrhaftig vor ihr stehen.

Versteinert starrte sie zurück.

Da war er, direkt vor ihr, keine Armlänge von ihr entfernt. Und dennoch unerreichbar.

»Nicolas.« Obwohl sich niemand außer ihr im Raum befand, hatte sie das unbezwingbare Verlangen, seinen Namen auszusprechen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen und ihre Kehle schnürte sich zu. Mit zitternden Fingerspitzen fuhr sie über die leblose Farbe, die ein so reales Bildnis erschaffte. Sie strich über die gemalten Wangen, hinab bis zum Kinn, um danach die vollen Lippen nachzuzeichnen. Dieses Bild war alles, was ihr von ihm geblieben war.

»Nicolas«, hauchte sie ein zweites Mal. Jetzt rannen die Tränen lautlos über ihr Gesicht. Sie vermisste ihn, mehr als je zuvor. Was gäbe sie dafür, wenn sie in das Gemälde hineinklettern und sich in seine Arme schmiegen könnte? Endlich wieder umhüllt von seiner Wärme, in seinem Geruch badend, gehalten und beschützt.

Geliebt.

Sanft legte sie ihren Mund auf die gemalten Lippen und hauchte einen bittersüßen Kuss auf die Leinwand.

Es war nur Stoff, den sie berührte.

Die Kälte, die Nicolas hinterlassen hatte, war unerträglich, schlimmer als alles, was sie zuvor erlebt hatte, schlimmer als das Loch, das ihr Vater in ihr Herz gerissen hatte. Diese Kälte war dabei sie restlos zu verschlingen. Ein leises Schluchzen entwich ihrem Mund. Sie lehnte sich an das Porträt, presste beide Hände gegen Nicolas' Brust und schmiegte ihre Wange an seinen Hals. Angestrengt versuchte sie zu atmen.

Er hatte ihr versprochen, bei ihr zu bleiben, doch jetzt war er fort. Ein heiseres Lachen entwich ihrer Kehle. Er war gegangen, um sie zu schützen, um ihre Sicherheit zu gewähren, um für ihr aller Wohlergehen zu sorgen. Aber keinen von ihnen hatte er damit einem Gefallen erwiesen, niemanden ging es besser ohne ihn. Das Einzige, das er erreicht hatte, war, dass er fehlte – so unendlich und gnadenlos.

Warum glaubte er fest daran, dass das, was er tat, dass Beste für sie und für die anderen war? Wie konnte er auch nur fünf Minuten annehmen, dass sein Weggang ihr Leben verbessern würde? Oder tat er das überhaupt nicht? Sie war nicht in Sicherheit, weil er fort war. Nein, er hatte das genaue Gegenteil erreicht. Adam hätte sie fast umgebracht, WEIL Nicolas fort war. Die kleine Familie hatte sie zurückgelassen, WEIL er fort war.

Tränen auf ihrer Wange besudelten das Gemälde, während sie sich schluchzend gegen dieses sinken ließ, doch es interessierte sie nicht. Dies war der einzige Nicolas, den sie noch hatte, und sie wollte ihm so nah wie möglich sein.

Sein Fortgang schützte sie nicht. Er zerstörte sie.

Warum? Warum hatte er das getan? Warum war er noch immer fort? Warum ist er nicht wiedergekommen, als sie sich in Gefahr befunden hatte?

Wieder und wieder kreisten die Fragen in ihrem Kopf und langsam kroch eine heiße, lange unterdrückte, Wut in ihrem Inneren an die Oberfläche und vertrieb die Kälte. Ihre Fingerspitzen krümmten sich und jetzt waren es ihre Nägel, die über die Bildoberfläche fuhren.

Wie konnte er es wagen, sich so feige aus ihrem Leben zu stehlen? Nachdem er ihr versprochen hatte, bei ihr zu bleiben – ja, nachdem er ihr gesagt hatte, er würde sie lieben? Welcher gottverdammte Dreckskerl machte so etwas? Wie hatte er sie so in Sicherheit wiegen können, als er doch schon seinen Fortgang geplant haben musste? Er musste wissen, was er ihr damit antat, doch es scherte ihn einen feuchten Dreck.

Immer fester krallte sie ihre Fingernägel in die Leinwand, langsam und kraftvoll kratzen sie hinab, quer über sein engelsgleiches Gesicht, dass ausdruckslos durch sie Hindurchstarte. Farbpartikel sammelten sich unter ihren Nägeln und hinterließen tiefe Kratzer auf seiner Wange – Kratzer, die im Gesicht des echten Nicolas in Sekunden verheilt gewesen wären, doch diesem Nicolas blieben sie für die Ewigkeit.

Schrill lachte Melissa auf. Er war es, der sie zerstörte, er allein. Er hatte alles ruiniert – er hatte sie im Stich gelassen, dann verließen sie Tara, Amia und Adam und am Ende sogar Lia. Sie alle waren fort – nur wegen ihm.

Hatte er nie vorgehabt, bei ihr zu bleiben? Vielleicht hatte Lia recht. Vielleicht war sie ihm bereits langweilig geworden. Selbst Kari hatte sie gewarnt, auf ihre Art.

Vielleicht hatte er wirklich nur mit ihr gespielt.

Aus dem Augenwinkel sah sie etwas auf der Fensterbank metallisch aufblitzen. Sie griff danach. Schwer atmend betrachtete sie den spitzen Gegenstand und ein dunkler Strudel zog sie in eine ungeahnte Tiefe, ergriff Besitz von ihr und stürzte sie in ein Meer aus brodelndem Zorn. Fest umklammerte sie die kalte Nagelschere.

Und dann stach sie mit aller Kraft zu.

Ein widerliches reißendes Geräusch erfüllte den Raum, als die kleine Schere sich unerbittlich durch Nicolas' Bildnis fraß, ihm erst die Wange, dann den Hals und schließlich die Brust aufschlitzte. Immer wieder stach Melissa zu, schrie laut auf und fügte dem bewegungslosen Nicolas einem tiefen Schnitt nach dem anderen zu. Kaum konnte sie erkennen, was sie tat, so tränenverschwommen war ihre Sicht. Wütend wischte sie sich mit dem Handrücken durch die Augen, schluchzend und außer sich vor Zorn.

Warum hatte er ihr das angetan? Wie hatte er sie so belügen können? Sie konnte es nicht verstehen und noch weniger konnte sie es akzeptieren.

Verzweifelte Hiebe trafen den Stoff und erst als das Gemälde vor ihr in Fetzen hing, wurden ihre Bewegungen schwerfälliger, bis sie schließlich die Schere sinken ließ. Bebend betrachtete sie ihr Werk.

Als sie begriff, was sie angerichtet hatte, fiel das spitze Metall klirrend zu Boden und Melissa sank gegen das zerstörte Bildnis. Wimmernd glitt sie an diesem hinab, bis sie zusammengekauert auf dem Fußboden saß, das tränenverschmierte Gesicht fest an die Überreste von Nicolas Ebenbild gepresst.

Warum hatte er ihr gesagt, dass er sie liebte?

Nichts wünschte sie sich sehnlicher, als das Nicolas zurückkommen möge. Und an nichts glaubte sie weniger.


♥︎Bad Salvation♥︎ - The Girl With The VampireWhere stories live. Discover now