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»Wir haben noch etwas zu erledigen.«

»Was meinst du?« Melissa verstand nicht, auf was Nicolas hinauswollte. Ohnehin fiel es ihr schwer, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, als den nächsten Atemzug und wie sie eine weitere Minute überstehen sollte. Mit einem Tee, dessen Aroma sie noch nie auch nur ansatzweise so intensiv wahrgenommen hatte, saß sie seit bestimmt zwei Stunden auf dem Sofa und sah Amia beim Spielen zu, angestrengt damit beschäftigt, die Fassung zu bewahren. Es war alles zu viel. Zu viel Reizüberflutung, zu viel zu verarbeiten. Zu viel Erleichterung über Nicolas Anwesenheit. Zu viel Schuld und zu viel Schmerz – und zu viel Hass. Außerdem spürte sie noch immer einen leichten Appetit, wenn auch nicht so intensiv, dass sie unkontrolliert über jemanden hergefallen wäre.

Zumindest Lia kam ihren Augen nicht mehr ständig in die Quere. Man hatte das Mädchen in Taras Zimmer verlegt, niemand wollte es häufiger als nötig zu Gesicht bekommen.

»Ich habe Josi gesagt, sie soll ihre alten Knochen herbewegen und Marlon mitbringen. Du kannst es dir vermutlich denken, dass es ihr nicht sonderlich geschmeckt hat.«

Marlon! Melissa hatte nicht ein Wort von dem vergessen, was Lia über den Zauberer erzählt, und was sie diesem angetan hatte. Doch sie weigerte sich, die Endgültigkeit anzuerkennen, von der das Mädchen gesprochen hatte. Solange Marlon lebte, gab es Hoffnung für ihn – zumindest versuchte Melissa sich das einzureden. Und ... was hatte Nicolas da gesagt?

Ungläubig starrte sie ihn an. »Du hast Josi herbeordert?«

»Ja. Das wird ein interessantes Treffen. Hoffentlich auch ein fruchtbares.«

»Geht es Marlon denn besser?« Ein kleiner Funken Hoffnung entzündete sich tief in ihrem Inneren.

»Nein, leider nicht.« Und sofort verglomm der Funken zu einem Nichts.

»Warum willst du sie dann treffen?«

»Weil ich nicht gerne aufgebe.« Verbissen presste Nicolas die Zähne zusammen. Er plante etwas, da war Melissa sich sicher. Leider schien er sie nicht einweihen zu wollen. – Sie würde es früh genug erfahren.

»Warum fahren wir nicht hin?«

»Entweder sie kommen her oder eben nicht. Ihre Entscheidung. Aber zu Josi ins Haus gehen ... sie hat die Anwesenheit von uns Vampiren in ihren heiligen Hallen schon bei unserem letzten Treffen kaum ertragen. Wer weiß, wozu sie fähig wäre, wenn wir es erneut wagen würden – nach allem, was vorgefallen ist. Ich lege noch immer keinen Wert darauf, bei lebendigen Leib gegrillt...« Er brach mitten im Wort ab. Melissa musste nicht erst fragen, welches innere Bild ihn hatte innehalten lassen. Sie sah es selbst. Adam, wie er qualvoll in den Flammen verbrannte. Schwer schluckte sie. Es gelang ihr nur bedingt, die Tränen zurückzudrängen. Entschuldigend sah Nicolas sie an, legte eine Hand um ihre Taille und zog sie nahe an sich heran. Dann sprach er schnell weiter. »In dieser Sache bevorzuge ich den Heimvorteil. Ich hoffe, dass sich die alte Hexe zumindest hier zu benehmen weiß.«

Melissa erinnerte sich mit Abscheu an die Abneigung, die Marlons Großmutter Nicolas und Adam gegenüber gezeigt hatte. Aber besonders war ihr das letzte Telefonat mit der alten Dame im Gedächtnis geblieben. Josi hasste Vampire aus tiefstem Herzen. »Vertraust du ihr? Ich meine, in in Bezug auf Lia?«

»Du meinst, ob die beiden unter einer Decke gesteckt haben? Das kann ich schwerlich vorstellen, dafür liegt Josi zu viel an ihrem Enkel. Niemals hätte sie bei Lias Spielchen zugesehen.

»Und du glaubst, sie werden kommen?« Melissa freute die Aussicht darauf, Marlon wiederzusehen. Sie hatte den unsicheren Zauberer längst in ihr Herz geschlossen. Nur die Ungewissheit über den Zustand, in dem dieser sich befand, machte ihr Bauchschmerzen.

»Ja, ich glaube, sie wird ein einziges Mal vernünftig sein und auf mich hören.«

Zweifelnd sah Melissa ihn an und schmunzelte. »Ich bin nicht sicher, ob vernünftig sein und und auf dich hören wirklich in den gleichen Satz gehören.«

Lächelnd hauchte er ihr einen Kuss auf die Stirn. »Danke.«

»Wofür?«

»Dafür, dass du dir selbst in dieser Situation ein wenig Humor bewahrt hast.«

Gequält lächelte Melissa zurück. Zu deutlich wurde ihr klar, dass sie alle gebrochen waren. Die Wunden, die Lia ihnen geschlagen hatte, würde noch lange schmerzen und tiefe Narben hinterlassen. Adam würde immer fehlen. Doch der Rest von ihnen war wieder zusammen. Daran musste sie sich jetzt festhalten.

Trotz ihrer hartnäckig andauernden Müdigkeit hörte Melissa den Wagen lange, bevor sie ihn sah. Sie trat ans Fenster, um die Ankunft zu beobachten. Noch immer konnte sie nicht glauben, dass Josi auch nur eine Sekunde in Betracht ziehen würde, dieses Haus zu besuchen. Was mochte Nicolas der alten Dame erzählt haben, um sie herzulocken?

Scheppernd und blubbernd steuerte das uralte Gefährt auf die gekieste Einfahrt und blieb mit einem zu abrupten Ruck stehen. Nicolas hatte sich zu Melissa gesellt und verfolgte ebenfalls das Geschehen. Er stieß einen heißeren Laut aus, der fast wie ein Lachen klang.

»Beeindruckender Auftritt. Man möchte Wetten abschließen, wann ihr der Wagen unter dem Hintern wegbricht. Ich frage mich, warum sie nicht gleich mit dem Besen gekommen ist.«

Hart stieß Melissa ihm einen Ellbogen in die Rippen, doch sie konnte nicht verhindern, dass ihre Mundwinkel sich ungefragt nach oben zogen. »Benimm dich. Sie ist jetzt unser Gast.« Schmollend sah Nicolas sie an. Diese kleinen Momente der Ungezwungenheit taten unglaublich gut. Dennoch fügte sie vorsichtshalber hinzu: »Marlon hat es nicht verdient, dass ihr euch auch noch angiftet. Also reiß dich zusammen.«

Amia saß noch immer verträumt auf der Schaukel und beobachtete die Wolken, als Josephina ächzend aus dem Gefährt stieg, sich in die Senkrechte hievte und langsam den Wagen umrundete. Als sie die Beifahrertür öffnete, wirkte ihr Blick verzweifelt. Mit beiden Händen griff sie in das Auto und zog kräftig. Halb kam Marlons schneeweißes Gesicht zum Vorschein, doch sofort entglitt er Josi wieder, und der Zauberer fiel zurück ins Wageninnere. Erschrocken fuhr Melissa sich mit der Hand über den Mund. Marlon war so stark entkräftet, dass es ihm nicht mehr möglich war, selbstständig aufzustehen.

Melissa hatte bereits die Türklinke in der Hand, als Nicolas sie stoppte.

»Ich mach das«, sagte er knapp. »Warte, bis sie sicher sitzt, bevor du sie mit deinem Vampirdasein überraschst.«

Melissa hatte keine Einwände. So blieben ihr ein paar weitere Sekunden, in denen sie nicht dem Entsetzen in Josis Gesicht begegnen musste. Als Nicolas bei den Ankömmlingen angelangt war und Marlon beim Aufstehen helfen wollte, drängte Josi den großen Vampir zischend zur Seite. Mit erhobenen Handflächen trat er einige Schritte zurück. Langsam näherte sich Tara der Szene. Zuvorkommend begrüßte die Vampirin zuerst Josephina, dann Marlon und fragte schließlich, ob sie ihn ins Haus begleiten dürfe. Zwar biss Josi auch jetzt noch die Zähne zusammen, doch sie ließ Tara gewähren und folgte ihnen.

Im Wohnraum angekommen, steuerte Tara sofort das Sofa an. Sie führte ihn zum Sofa, stützte ihn mehr, als dass er selbstständig ging. Melissa fürchtete, er jeden könnte jeden Moment das Bewusstsein verlieren. Behutsam ließ Tara Marlon auf die Sitzfläche gleiten. Er kippte direkt nach hinten an die Lehne und sein Kopf sank zur Seite. Immer wieder fielen ihm die Augen zu. Melissa erwischte sich dabei, wie sie Marlons kränkliche Gestalt erst anstarrte und sich dann verzweifelt die Augen rieb. Sie hatte gewusst, wie es um ihn stand, Josephina selbst hatte es ihr erzählt, aber ihn jetzt so zu sehen ... es war zu viel für diesen Tag. Schnell wendete sie den Blick ab und begegnete Josis hasserfüllten Augen. Die alte Dame war dabei, ihre Autoschlüssel in ihre Jackentasche zu stopfen, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne. Noch immer baumelte der Anhänger des Schlüssels aus ihrer Tasche heraus, aber sie bemerkte es nicht – zu entgeistert starrte sie Melissa an. Jeden Zentimeter von Melissas Erscheinung schien Josephina zu mustern: die auffallend samtigen Haare, das makellos glatte Gesicht, die grazil fließenden Bewegungen. Und die Augen. Josephina verweilte sekundenlang bei Melissas Augen, unfähig ihren Blick abzuwenden, und presste die Kiefer zusammen. Es sah aus, als fletschte sie die Zähne, doch sie sagte kein Wort.

Melissa brauchte nicht erst zu fragen, ob Josi ihre neue Natur erkannte.

♥︎Bad Salvation♥︎ - The Girl With The VampireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt