11. Kapitel

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Kein Point of View

Langsam schritt er den kurzen Gang entlang. Seine Schritte hallten in der kleinen Halle wieder und ließen die gespenstische Stille für ein paar Sekunden verschwinden. Nachdem er das kleine aber hohe Rednerpult passiert hatte, blieb er stehen und sah auf den großen Kasten vor sich. Sein Anzug saß perfekt, jedoch war er nur für einen bestimmten Grund gekauft worden. Kaum hatte er Halt gemacht, begann wieder unheimliche Stille den Raum zu erfüllen.

Seine Fingerspitzen berührten kurz das dunkle Eichenholz und mit einer leichten Berührung zog er eine Linie über das glatt polierte Holz. Obwohl es totenstill war, hörte er eine leise Stimme. Es war ihre leise helle Stimme, die kaum hörbar zu ihm sprach. Seine Finger umschlossen das Holz und er schloss seine Augen.

Ohne seine Augen zu öffnen spürte er, wie eine kleine Person hinter ihm trat. Sie trug ein knielanges weißes Kleid und lief barfuß über den Teppich, der sich den Gang entlang erstreckte. Geräuschlos trat sie hinter ihm und sah zu ihm hoch. Ein kleines Lächeln zierte ihre Lippen, als sie ihre dünnen Arme von hinten um seinen Oberkörper schlang. Sie legte ihren Kopf an seinen Rücken und verschränkte ihre Finger miteinander. Sie schloss ihre Augen ebenfalls und seufzte leise auf. Keiner von beiden sagte etwas, denn sie genossen es einfach nur. Nach einer Weile öffnete sie ihren Mund um etwas zu sagen, ihre Augen blieben weiterhin geschlossen.

„Ich bin hier.“

flüsterte sie zärtlich und schmiegte sich noch mehr an seinen Rücken. Es war, als hätte sie seine Angst gespürt. Seine Mundwinkel hoben sich ein wenig, als er ihre Stimme hörte.

„Ich weiß.“

antwortete er ebenso leise und drückte seine Augen feste aufeinander. Er wollte, dass dieser Moment niemals endete, doch er ahnte, dass dies bald ein Ende haben würde.

„Ich werde immer bei dir sein, egal wo du bist oder was du auch machst. Ich werde dich nie wirklich verlassen. You and me forever, das weißt du.“

hauchte sie, bevor sie langsam ihre Arme sinken ließ. Erschrocken riss er seine Augen auf, dann realisierte er, dass sie ihren Körper von seinen gelöst hatte. Er wollte ihre Hände berühren, die sich auf seinen Bauch verschränkt waren, doch er berührte nur den Stoff seines weißen Hemdes.

„Nein, geh nicht.“

flüsterte er panisch und drehte sich um. Er starrte auf die Stelle, wo sie gerade noch gestanden hatte, aber dort war keiner mehr zu sehen. Es war als wäre sie nie dort gewesen. Er war wieder alleine in der kleinen Halle.

„Komm wieder.“

flehte er leise und sah sich um. Er hoffte, dass sie wieder auftauchen würde, aber nichts regte sich. Nicht einmal eine einzige Bewegung oder ein Anzeichen, dass sie hier war, fand er.

„Bitte.“

rief er nun etwas lauter und drehte sich einmal um seine eigene Achse. Nachdem er sich einmal gedreht hatte, blieb er stehen und krallte sich wieder an dem dunklen Holz fest. Es war das einzige, was ihm gerade half aufrecht zu stehen. Er warf wieder einen Blick in den Kasten vor sich und zuckte zusammen. Hier war sie also.

Ihre Augen, die ihn gerade noch liebevoll angesehen hatten, waren nun geschlossen, ihre Lippen, die sich gerade noch bewegt hatten, um mit ihm zu sprechen, waren zu einem kleinen Lächeln verzogen worden. Das Kleid passte perfekt zu ihrem Körper. Ihre Haare waren perfekt gemacht worden und lagen locker über ihre Schultern. Ihre Hände, die er vor ein paar Sekunden noch auf seiner Haut gespürt hatte, waren ineinander gefaltet auf ihre Brust gelegt worden. Als er ihren leblosen Körper, der auf  strahlend weißen Polstern und Kissen gebettet worden war, bildeten sich Tränen in seinen braunen Augen.

„Wieso?“

fragte er und wartete vergeblich auf eine Antwort, die er nicht erhielt. Nie wieder würde er eine Antwort von ihr erhalten. Tränen traten rasend schnell aus seinen Augen und liefen seine Wangen herunter.

„Warum du? Wieso hast du mich nur alleine gelassen?“

Seine Stimme war kläglich und klang tränenerstickt. Er wünschte sich, an ihrer Stelle zu sein. Sie hätte es verdient zu leben, das war sein einziger Gedanke. Er beugte sich zu ihr herunter und betrachtete ihr Gesicht aus einer näheren Perspektive. Die Röte war ihr kunstvoll und täuschend echt auf ihre Wangen gemalt worden. Immer schneller liefen Tränen aus seinen Augen, ein heftiger Krampf erfasste ihn. Schluchzend stützte er sich auf den Rand des Sarges ab und vergrub sein Gesicht in seinen Händen.

„Du hast es mir doch versprochen.“

schluchzte er und betrachtete mit verschwommener Sicht ihren leblosen Körper. Er wäre für sie gestorben, nur damit sie jetzt leben könnte. Er hätte ohne eine Sekunde zu zögern ihre Schicksale getauscht.

„Ich hätte dich so gerne bei unserer Hochzeit in diesem Kleid gesehen und nicht für diesen Anlass.“

Er konnte seine Stimme selbst kaum noch hören, da er so laut schluchzte. Schmerz machte sich in seinem Herzen breit und breitete sich in seinen gesamten Brustkorb aus. Er griff mit einer Hand in die Tasche des Jacketts und zog einen kleinen schmalen goldfarbenden Ring hervor. Er drehte ihn so, dass er die Innenschrift lesen konnte.

You and me forever.

Mit zitternden Fingern nahm er ihre eiskalte Hand und löste sie von ihrer anderen. Nur mit Mühe steckte er ihn an ihren Ringfinger. Kurz strich er mit seinen Daumen darüber, bevor er ihre Hände wieder in ihre alte Position legte. Vorher küsste er ihre Hand hingebungsvoll. Während er schluchzte und seine unbeschreibliche Trauer ausdrückte, bemerkte er nicht, wie sich ein anderer junger Mann näherte. Seine grünen Augen glänzten, als er seinen besten Freund so sah. Vorsichtig trat er neben ihn und legte seine Hand auf die Schulter.

Sichtlich erschrocken fuhr er zusammen und drehte sich zu ihm um.

„Komm Liam, wir müssen jetzt gehen.“

sagte er mit zitternder Stimme und versuchte nicht in den Sarg zu sehen. Der Anblick seines Freundes, der seine Trauer ausdrückte und der leblose Körper seiner großen Liebe, ließ ihn ebenfalls anfangen zu weinen. Wiederholt forderte er ihn auf, sie jetzt zu verlassen.

„Liam, komm jetzt bitte, du musst sie gehen lassen.“

sagte er und versuchte ernst zu klingen. Es ging in einem qualvollen Schluchzen unter.

„Nein. Ich kann sie nicht gehen lassen. Sie war meine Liebe, mein Leben. Ich habe noch jemanden so sehr geliebt wie sie.“

Der Lockenkopf nahm seinen braunhaarigen Freund am Arm und zog ihn sanft weg. Widerwillig ließ er sich von dem Sarg wegführen, nicht ohne vorher einen letzten Blick auf die Liebe seines Lebens zu erhaschen.

„Ich liebe dich.“

wisperte er leise und liebevoll, bevor er sich hinkniete und zusammenbrach. Wieso hatte Gott sie ihm nur weggenommen? Bevor er seinem Freund wieder aufhalf, erhaschte er einen letzten Blick nach hinten. Er formte seine Lippen zu einem Satz, den er lautlos aussprach.

Don't leg me go.

Hold my HandWhere stories live. Discover now