Kapitel 32

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Ich taste mit der Hand nach dem Kissen, drehe mich langsam um und schmeiße es mit voller Wucht in Richtung Tür.
"Hey!", höre ich plötzlich Miguels Stimme.
Ich blicke nochmal zurück und finde den Vampir in der Tür, in einer Hand das Kissen, in der anderen ein Tablett mit meinem Essen.
"'tschuldigung.", sage ich. "Ich wusste nicht, dass du hier bist."
"Bevor du das hier geschmissen hast, war ich auch nicht da. Joshua meinte, ich soll dir das Abendessen bringen. Warum so verärgert?"
"Weil mir niemand über meine Zukunft erzählen will. Sogar Alexandra..."
Miguel hebt verwundert die Augenbrauen.
"Die Anführerin war wieder hier?"
Warum spürt das niemand hier?
"Hm ja."
"Darum wollte mich Joshua weghaben. Vielen Dank auch, Joshua!"
Okay, Joshua ist auch älter als alle anderen. Wäre komisch, wenn er Alexandras Dasein nicht spüren würde.
Da fällt mir gerade was ein.


"Apropos... Miguel, warum reden manche von euch so komisch?Unterschiedlich, meine ich."
Der Vampir sieht mich fragend an.
"Setz dich.", winke ich ihm zu und während er auf dem Bett Platz nimmt und das Tablett abstellt, erkläre ich. "Na sieh mal. Joshua zum Beispiel ist relativ jung und redet in einer... ich sage mal alten Sprachweise. Aurora hingegen ist älter als er und redet wie wir beide."
Ich muss Joshuas Älter geheim halten, ich hab es versprochen.
"Ach so. Na das hängt mit Vorlieben zusammen. Zum Glück gibt es bei uns keine Vorschriften, wie man zu reden hat. Und was Joshuas Alter betrifft... Jeder weiß, dass er älter ist, als er es uns gesagt hat. Dass er in deinen Geist eindringen kann, ist dem ein Beweis. Doch keiner von uns kennt sein wirkliches Alter und Joshua selbst wird es uns bestimmt nie verraten. Wahrscheinlich ist er so alt wie Alexandra."
Aha, der Vampirjunge ist also doch nicht so geheimnisvoll. Zumindest wurden drei meiner Fragen beantwortet.
"Hast du immer noch keine Ahnung von dem Geschehen in einer Woche?", frage ich hoffnungsvoll nach.
Miguel zuckt die Schultern.
"Tut mir leid."
Dann schließt er mich kurz in eine Umarmung.

Schweigend habe ich gegessen und jetzt steigen wir die Wendeltreppe hoch in das Wohnzimmer. Auf dem Sofa sehen wir Joshua. Er kommt mir komisch vor... Irgendwie bedrückt.
"Du hast mit Alexandra geredet?", rate ich und er nickt.
"Wohl Anschiss gekriegt?", schnaubt Miguel mit einem schiefen Lächeln.
Ich ramme ihm leicht den Ellenbogen in die Rippen.
"Es ist meine Sache, über was ich mit Alexandra geredet habe. Ihr braucht euch deswegen keine Gedanken zu machen. Also, wir befestigen heute alles Gelernte. Lasst uns deshalb nicht länger die Zeit verlieren und rausgehen."
Schulterzuckend nicke ich. Es würde nichts bringen, wenn ich mich weigere oder etwas weiter frage.

Welche Aufgabe mir Joshua auch stellt, es klappt nichts. Nichts!
Kraftlos plumse ich auf den Boden.
"Was ist heute los mit dir?", ruft Miguel verständnislos.
Joshua macht sich nicht einmal die Mühe, solch sinnlose Fragen zu stellen. Er setzt sich einfach neben mich und sieht mich vorschend an.


"Lilith, du kannst alles. Aber du bist verzweifelt. Die Verzweiflung lässt deinen Kräften nicht den Weg frei."
Die ruhige, nette, allwissende Stimme geht mir auf die Nerven. 'Ich bin verzweifelt' - halt den Mund.
"Frag mich nur nicht, warum ich so bin. Die Gründe kennt ihr beide!", entgegne ich plötzlich gereizt.
Ich hab auf einmal genug von allem. Ich will einfach nur wieder nach Hause.
Nun setzt sich auch Miguel zu mir, aber etwas abseits. Mit seinem Blick bedeutet er Joshua, ebenfalls ein Stück wegzurutschen, doch der Junge rührt sich nicht vom Platz.
"Du brauchst ein bisschen Ruhe.", redet Miguel auf mich ein.
"Wie schnell du das doch kapiert hast! Ja, ich brauch ein bisschen Ruhe. Ruhe von euch allen! Lasst mich einfach gehen! Das alles brauch ich nicht!"
Ich hebe einen Stein auf und schmeiße ihn wütend weg.
"Ich brauch eure Fähigkeiten nicht! Ich hab die Fresse voll von euren Geheimnissen über meine Zukunft!"
Anstelle von Wut tretet Bitterkeit. Nein, ich will jetzt nicht weinen! Ich will toben, Sachen kaputt machen. Nicht vor den beiden Jungs weinen.
"Sucht euch jemanden anderen Besonderen!", schreie ich hysterisch.
Da, bitteschön, Tränen laufen über meine Wangen, während ich alles rausschreie, was sich in meiner Seele gesammelt hat. Und die Vampire sitzen nur da und schauen mich entsetzt/bemitleidend an. Wie ich das alles hasse!!! Wie ich ihre Spiele, ihre Geheimnisse hasse!!
Ohne dass ich es bemerkt hatte, hat sich Miguel mir näher gesetzt. Auf einmal, gleichzeitig, umarmen mich die beiden Vampire.
"Du stehst das durch.",flüstert Miguel. "Du schaffst das."
"Wir glauben an dich. Du kannst das schaffen.", fügt Joshua leise hinzu.
Warum sind sie so?!! Warum sind sie nur so menschlich?!
"Was kann ich schaffen?!! Was soll ich schaffen?!"
Joshua nimmt die Hände weg, rutscht ein bisschen zurück und sieht traurig zu Boden.
"Alexandra hat mir deutlich verboten, das dir zu sagen. Überhaupt jemandem zu sagen."


Nach einem Kuss auf die Wange lässt mich Miguel ebenfalls los.
"Lilith, bitte, hör auf zu weinen."
Dann wischt er mir die Tränen weg.
Würd ich ja gerne! Die Tränen fragen mich aber nicht.
Mein Freund drückt mich nochmal fest an sich.
Schließlich höre ich wirklich auf, zu weinen. Als ich einen Blick auf Joshua werfe, wage ich nicht, über sein seltsames, abwesendes Verhalten nachzudenken. Er kann immer noch meine Gedanken lesen., erinnere ich mich. Was Alexandra ihm wohl gesagt hatte...
Mit dem letzten Seufzer sammle ich mich und verschränke die Beine im Schneidersitz.
"Ich glaube, ich hab alles raus und kann jetzt fortfahren.", künde ich beschämt an.
"Dann fange an.", meint Joshua, behält aber seine Position, mir fast den Rücken zugekehrt.
"Joshua, alles gut?", fragt Miguel auf einmal besorgt.
"Wenn das nur so wäre...", lautet die Antwort des Jungen. "Entschuldigt mich, ich muss meine Gedanken sammeln."
Er erhebt sich und verschwindet im hohen Tempo aus unserer Sicht.
"Hm jaa, heute sind irgendwie alle schlecht drauf.", seufzt Miguel und fordert mich auf, anzufangen.

Zu Hause bei den Vampiren Where stories live. Discover now