I. regengeflüster

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Pünktlich um sechs Uhr, wie jeden Tag, klingelte mein Wecker. Ich streckte mich gähnend, rollte mich schwerfällig aus meinem großen Bett und tappte halb blind ins Badezimmer. Im Badspiegel blickten mir zwei trübe, grüne Augen entgegen, welche sich plötzlich ruckartig zusammenzogen.

»Adam, Licht aus!«, ächzte ich der abgeschlossenen Badtür mit dünner krächzender Morgenstimme entgegen, welche direkt zum Flur führte. Praktischerweise war der Lichtschalter außerhalb des Bades angebracht. Ironisch lachte ich kurz, über meinen abwertenden Gedanken.

Adam war mein großer Bruder.

Besser gesagt mein Stiefbruder. Meine Mum konnte sich nie richtig entscheiden. Außerdem hatte sie einen siebten Sinn für Arschloch-Väter.

Erschreckend.

Fast schon wie ein Magnet schleppte sie einen Versager nach dem anderen an. Schon in jungen Jahren war ich diejenige gewesen, welche sie trösten musste, weil ihre Partnerwahl ausgewandert oder urplötzlich mit drei anderen Frauen verheiratet war. Dann vor sieben Jahren heiratete sie erneut und somit kam Adam in mein Leben. Ich hatte schon fast gedacht, dass meine Mum es endlich geschafft hatte, den Mann fürs Leben zu finden, doch dann starb Dad Nummer fünf kurz nach der Hochzeit und hinterließ eine Witwe mit zwei gebrochenen Kindern.

Kaum zu glauben wie mies ein Liebesleben sein konnte.

Ab diesem Punkt hatte ich eindeutig genug von Männern. Auch mit Adam hatte ich nicht den besten Start gehabt, da ich es anfänglich nicht akzeptieren wollte, nicht das einzige Kind zu sein, welches von meiner lieben Mutter Beachtung empfing. Doch diese egoistischen Gedanken legten sich gottseidank schnell, nachdem ich seinen erstklassigen Humor und die langen Umarmungen lernte wertzuschätzen.

Früher beschützte er mich stetig vor aufdringlichen Jungs und einigen Rüpeln meiner Schule, die mich neckten. Heutzutage gehörte ich leider Gottes selbst dieser Art von Gruppe an. Nicht den unzubändigenden Rüpeln, sondern jenen, welche ihre Zigarette am liebsten auf dem Schulgang rauchten, und den Nervenkitzel liebten, dafür eine Strafe einzuheimsen. Ich war ein wenig zum weiblichen Arschloch mutiert, da mir der Sinn meines Lebens immer mehr zu entgleiten schien, doch dies war ebenfalls meinem sozialen Umfeld zu verdanken.

Egal wie nervig oder schlagfertig Adam manchmal war, ich war unendlich froh, ihn als großen Bruder zu haben. Ein bisschen traurig jedoch ist es, dass er immer noch zu Hause lebt. Nicht, dass ich ihn loswerden wollte, jedoch wünschte ich ihm ein eigenes Leben, wild und selbstständig. Mit seinen inzwischen schon dreiundzwanzig Jahren ist er fünf Jahre älter als ich, jedoch nicht viel erwachsener.

Ich würde mich persönlich auch nicht als erwachsen beschreiben. Und darüber war ich eigentlich ganz froh. Nur ungern wollte ich Veratwortung tragen und die Zeit ungehemmt an mir vorbeirauschen sehen, dabei die Last der Arbeit auf meinen Schultern.

Doch ab wann war man denn erwachsen?
Wer bestimmt, ob man an dem Punkt angekommen ist, um erwachsen zu denken und zu handeln?

Die meisten deuten das „erwachsen sein" wahrscheinlich mit Selbstständigkeit und einer klaren Sicht auf das Leben. Wenn man weiß, was man will, und sich langsam aber sicher eine Existenz aufbaut.

Laut dieser eigenen Definition also keinerlei Spaß, Drogen, geschweige denn fette unvergessliche Partys der wilden Jugend. Jedoch war ich mir bewusst, dass meine Ansichten diesbezüglich sicherlich sehr einsichtig und undurchdacht waren. Niemand konnte beurteilen, was werden wird, wenn man dies nicht bereits hinter sich hat. Also sollte ich mich mit verschlossenen Augen leiten lassen, und sehen, was auf mich zukommt.

In der Schule hatte ich kaum andere Freunde als meine Clique, da ich mich meist recht distanziert verhielt. Und diese konnte man auch nicht wirklich als wahrhafte Freunde bezeichnen. Natürlich, wir hingen manchmal ab und quatschten, aber mir war bewusst, dass wenn die Schulzeit vorrüber war, keiner dieser stupiden Seelen sich darum bemühen würde, den Kontakt zu halten.

Ich bin eher ein Einzelgänger, da ich kaum Zeit habe, und sowieso von allem ermüdet bin. Außerdem eilt mir mein schlechter Ruf voraus, was es mit nicht grade leicht macht, neue Freunde zu finden. Dies habe ich schon vor einiger Zeit aufgegeben.

Einige Schüler verbreiteten einst das Gerücht über mich, ich sei Drogenabhängig. Anfangs war ich lediglich belustigt über diesen Schwachsinn, doch nach einiger Zeit nagte es sehr an meinem Ego. Zwar rauchte und trank ich, dies jedoch alles unter eigener Selbstkontrolle. Was war denn so verwerflich daran, dies zu tun, wonach einem der Sinn stand.

»Al, beeil dich. Schminke bringt nicht viel, bei deinen Augenringen.«, rief Adam durch die Tür zurück und das Licht flackerte unruhig im Sekundentakt zwischen hell und dunkel.

Ich stöhnte leise und lies mir kaltes Wasser über die Schläfen laufen, was mich etwas aus meiner Trance aufweckte.

Ja, Al, das bin ich.

Allie Breckman.

Ein recht kompliziertes Mädchen, mit einigen Pickeln, angelangt im fünften Stadium der höchst anstrengenden Pubertät.

Mit blinzelnden Augen, welche in diesem Moment eher als vertrocknete Feigen durchgehen würden, betrachtete ich mich im Spiegel.

Ich sehe nicht schlecht aus. Groß gewachsen, dünn aber nicht mager, ansehnliche Figur, nettes Lächeln. Doch mein Lächeln kommt nicht allzuoft zum Vorschein. Ich schenke es nur Menschen, welche ich wirklich mag. Etwa Menschen, wie meiner Familie.

Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen.

Nun war auch meine Mum auf den Beinen, welche, zusätzlich zu der kleinen Lichtshow welche mein Bruder mir vorführte, ungeduldig in einem schnellen, pochenden Rhythmus gegen die Badtür klopfte.

»Na super«, murmelte ich leise und nahm meine Zahnbürste langsam in den Mund während ich mit der anderen Hand probierte, meine Haare zu ordnen, welche eben noch in einem zotteligen Dutt auf meinem Kopf zusammen gebunden waren.

Mein Kopf dröhnte und ich versuchte meine Mum und meinen Bruder so gut es ging zu ignorieren.

Erfolglos.
Sie gaben nicht auf.

Ich hielt mir also die Ohren zu und versuchte mit aller Anstrengung deren Foltermethoden zu verdrängen.


Nach etwa einer Minute meiner vergebens heraufbeschworenen Konzentration schmiss ich meine nasse Zahnbürste in den Badschrank zurück und verließ das Bad.

Adam saß im Schneidersitz vor der Türe und wartete, mit seinem Handy in der Hand, bis sich die Tür öffnete. Von meiner Mum war keine Spur mehr zu sehen.

»Na endlich, kleine Schwester.«

Er stand auf, nur, um mich mit seiner enormen Größe zu überragen, und wuschelte mir freudig durch die Haare.

Ich wehrte mich nicht.

Zu früh um irgendetwas zu tun.

»Hm.«, grummelte ich nur und schlürfte in mein Zimmer, um mit einem Grunzen zurück in mein Bett zu fallen.

★? Danke!

roses are slowly dyingWhere stories live. Discover now