II. brillenglas

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Es reizte mich sehr, dass jenes Mädchen namens Sam, solch ein Interesse in mir weckte, mit dieser spielerisch liebevollen Art.

Zu Hause angekommen stellte ich mich abermals unter die Dusche, um den Gedanken freien Lauf in die Kanalisation zu gewähren.
Als ich aus dem Bad kam, war meine Mutter überraschender Weise schon daheim. Normalerweise arbeitete sie bis spät in die Nacht. Heute jedoch stand sie mit verschränkten Armen und einer zweifelnden Miene im Gesicht vor der Badtür. Anscheinend hatte sie auf mich gewartet.

»Mum?«, fragte ich unsicher.
»Was machst du hier?«

Stille.

»Alles okay?«, fragte ich noch einmal.

Sie stand wie aufgelöst vor mir. Gerade, als ich tröstend meine Arme um sie legen wollte, wurde ich von einem Klang gestoppt.

Aus dem Wohnzimmer schepperte ein Geräusch die Treppenstufen empor. Erst leise, dann immer lauter. Ein Kind weinte. Ich sah erschrocken meine Mutter an, welche mich noch immer verloren anstarrte.

»Suse und Carl...«, brachte sie mit zittriger Stimme hervor.
»Und Liam.. er war allein... ganz allein.«

»Mum, bitte sag mir einfach was los ist. Und was ist das für ein Geweine verdammt?«

Ich lief ins Wohnzimmer um dort nach Antworten zu suchen. Als ich durch den Türrahmen trat, saß ein kleiner Junge auf dem Boden, welcher sich weinend den Kopf hielt.

»Liam...«, sagte ich erstaunt und lief auf ihn zu, um ihn in eine Umarmung zu ziehen und so gut es ging seine Tränen zu ersticken. Anscheinend hatte er sich seinen Kopf angeschlagen.

»Allie, was sollen wir nur tun. Wir haben doch kaum Geld für uns drei, und jetzt auch noch das.«, murmelte meine Mutter geknickt, als sie mir ins Wohnzimmer folgte.

»Wovon redest du?«

Schweigend sah sie mich an.

»Ein Autounfall. Suse und Carl liegen beide im Krankenhaus.«

»Scheiße«, sagte ich verwirrt, ohne meine Wortwahl zu beachten. Erschrocken legte ich meine Hand auf den Mund, als könnte sie das bereits ausgesprochene Wort wieder gut machen.

Seufzend hielt ich immer noch Liam in den Armen, welcher sich langsam beruhigte und sich meinem Atem anpasste.

»Ich erfuhr durch die Polizei von dem Unfall und fuhr sofort los, um Liam von der Krippe abzuholen. Er hat keine Ahnung, was mit seinen Eltern passiert ist. Wir müssen uns jetzt um ihn kümmern, auf unbestimmte Zeit«, sagte meine Mum ängstlich, mit vielen Zweifeln und Sorgen in der Stimme.

Ich blickte meiner Mutter in ihre braun schimmernden Augen.

»Wir schaffen das! Ich werde Alles geben, um dich zu unterstützen. Du hast es nicht leicht, es tut mir leid.«

Mit diesen Worten hob ich Liam hoch, dessen Gewicht nicht zu unterschätzen war, und wischte sorgfältig seine kullernden Tränen weg.

»Ich danke dir, mein Schatz. Was würde ich nur ohne dich tun. Ich muss nochmal los zur Arbeit, hoffentlich kommt ihr zurecht.«

Mit diesen Worten eilte sie davon.

Ich gab Liam einen Kuss auf die Wange und begab mich auf den Weg in mein Zimmer.

Dort angekommen setze ich den kleinen Mann auf meinem Bett ab. Erschöpft ließ ich mich auf dem Boden nieder und betrachtete Liam genau. Familienzuwachs auf unbestimmte Zeit.

Ob er verstand, was passiert war? Sollte ich ihm sagen, dass er nun erstmal hier bleiben würde? Oder war dies eine unverständliche Information für einen Dreijährigen? Ich konnte ihn nicht einschätzen, da ich ihn kaum kannte. Wir hatten Suse und Carl selten besucht, jedoch immer ein gutes Verhältnis mit ihnen gehabt.

Suse war meine Tante.
Die jüngere Schwester meiner Mutter.

Ihr war es leicht gefallen, sich eine Existenz aufzubauen. Schon in jungen Jahren hatte sie Carl kennengelernt, welchen sie später auch heiratete. Geldprobleme gab es bei den zwei nie und vor vier Jahren hatten sie sich endgültig dazu entschlossen, eine Familie zu gründen. Daraufhin kam Liam zur Welt, ein herzlicher Junge, mit großen braunen Augen und blonden Haaren. Er hatte meistens ein Lächeln im Gesicht.

In der Zeit der wenigen Besuche verstand ich mich immer sehr gut mit ihm. Ich mochte Kinder sehr. Nun war ich für ihn verantwortlich, jedenfalls außerhalb des Zeitplans der Kindertageskrippe.

Immer noch etwas geschockt stand ich auf und setze mich neben Liam. Es tat mir unendlich Leid für ihn. Ich legte meinen Arm um ihn und er kuschelte sich an mich. Er brabbelte etwas vor sich hin und sah mich dann mit seinen großen Augen an.

»Ich hab Hunger«

Es war schon abends und ich konnte seinen Hunger gut nachvollziehen, da seine letzte Mahlzeit wahrscheinlich mittags gewesen war. Wieso war ich nicht selbst drauf gekommen, dass er etwas essen musste? Das war ja ein super Start als Ersatzmutter.

Ich lächelte ihn an und fragte ihn, ob wir in die Küche gehen wollten um nach etwas Essbarem zu suchen. Er nickte nur und war vor mir auf den Beinen und bereits auf dem Weg aus der Tür. Wie flink kann man denn bitte sein? Ich musste echt aufpassen, dass er mir nicht irgendwann verloren ging.

In der Küche angekommen standen wir ratlos da und betrachteten die vielen Schränke und Schubladen, bis ich ihn spielerisch packte und auf meine Schultern setzte.

»Jetzt gehen wir auf Tauchgang. Aaaachtung!«, rief ich spielerisch und riss die erste Schublade auf.

In ihr befanden sich vereinzelte Schokoladenriegel und Cornflakes, welche sich unaufgeräumt türmten. Überrascht über die eigene Unordnung ließ ich die Schublade schnell wieder zu schnellen.

Auch in den anderen Schränken fanden wir nur Unordnung und nichts Essbares, was für Dreijährige angemessen war.

»Das ist kein ordentliches Abendessen.«, grummelte ich verblüfft und nahm Liam wieder von meinen Schultern hinunter. Er beschwerte sich kurz, da die Sicht von dort oben viel besser gewesen sei, hielt dann aber inne, als die Tür auf ging und Adam herein kam.

»Hey Adam«, sagte ich erschöpft.

»Hat es dir Mum schon erzählt?«

»Naa ihr Kleinen, ja, wir haben eben telefoniert.«, sagte er beiläufig, während er seinen Motorradschlüssel weg legte und Liam herzlich in die Arme schloss. Ein göttliches Bild, zuckersüß anzusehen.

»Wir haben nichts Gescheites zu essen hier, ich denke ich muss noch mal schnell zum Supermarkt rüber«.

Ich fing an, mir meine Jacke anzuziehen und zu überlegen was ich kaufen sollte. Auf einmal rannte Liam mir entgegen und hob seine kleine Jacke vom Boden auf. Er hatte bemerkte, dass ich vor hatte einkaufen zu gehen und machte sich nun auch daran, sich anzuziehen, da er mir behilflich sein wollte. Ich zweifelte kurz, ob es nicht schon zu spät für den kleinen Mann war, jedoch half ich ihm nach kurzer Überlegung in seine Schühchen.

Hand in Hand verließen wir das Haus und machten uns auf den Weg zum Supermarkt.

★? Danke!

roses are slowly dyingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt