„Second Sight"

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Ich versuche, nicht an Markus zu denken, als ich die App herunterlade und mein Profil erstelle. Und nicht an all die Dinge, die ich nicht mehr will. Stattdessen denke ich an das, was ich mir wünsche. Wen ich mir wünsche.

Eigentlich erwarte ich doch nicht sehr viel. Geduldig darf er sein und liebevoll. Und das allerwichtigste ist mir, dass er mich versteht. Er muss dem verdrehten Humor meiner Witze nicht folgen können, aber er sollte lachen, wenn er merkt, dass ich versuche, lustig zu sein. Und er muss nicht mit mir über autopoietische Systeme und die Theorie des Konstruktivismus diskutieren, aber er sollte meine Begeisterung dafür wertschätzen.

Eben genau das Gegenteil von Markus. Und genau deshalb habe ich mich auch für diese Datingapp entschieden, bei der man keine Profilbilder hochlädt. Man kann keine Fotos oder Sprachnachrichten versenden, kennenlernen tut man den anderen nur über den Schriftverkehr. Nur seinen Verstand, sozusagen. Ich will einfach keine ersten Erwartungen wecken, die ich am Ende nicht erfüllen kann.

Der Name der App erzeugt eine kleine Sorge in mir, die als schwaches Wölkchen meine Gedanken umnebelt. Ich verstehe den Gedanken dahinter, da ja der „erste Blick" auf den anderen fehlt. Von Second Sight kann jedoch auch keine Rede sein, denn wo kein erster ist, ist auch kein zweiter.

Ich sitze bereits seit ein paar Minuten über mein Handy gebeugt da und überlege, was ich schreiben soll. Die Felder über meine Lieblingsspeisen und Dinge, die ich nicht leiden kann, habe ich bereits ausgefüllt und wurde dabei ungut an die Freundschaftsbücher aus der Grundschulzeit erinnert. Nur unter „Beschreibe dich selbst mit ein paar Worten, um dich für die anderen User interessant zu machen" steht noch nichts.

Woher soll ich wissen, was mich für andere interessant macht? Und entscheidet das nicht jeder selbst, welcher Aspekt an einem anderen einem ins Auge fällt? Oder vielleicht nicht direkt ins Auge, in diesem Fall...

Zuerst habe ich anklicken müssen, nach wem ich suche, und ein paar eigene Informationen eintragen müssen, die zum „Matchen" verwendet, den Benutzern aber nicht angezeigt werden. Ich bin männlich, suche männlich, bin 23 Jahre alt, suche im Bereich zwischen 18 und 25 Jahren. Und wenn der perfekte Partner diese App tatsächlich benutzt, aber schon 26 ist? Egal. So richtig daran glauben, dass ich so den Partner fürs Leben finde - oder dass es den überhaupt gibt - kann ich noch nicht. Mit der Größe verhält es sich so ähnlich. Ist es mir wichtig, ob er größer oder kleiner ist als ich? Und wieso darf ich das überhaupt festlegen in einer App, die für sich beansprucht, sich von den Äußerlichkeiten freizumachen?

Nach einer Weile schreibe ich dann das, was ich denke: „Ich würde dir gerne etwas Interessantes über mich erzählen, aber ob es dich interessiert, musst du selbst entscheiden. Lern mich doch einfach kennen."

Ich überprüfe meine Angaben auf Fehler, setze noch ein vergessenes Komma an die richtige Stelle, und bestätige. Herzlichen Glückwunsch, Sie nutzen jetzt Second Sight!

Mir wird erklärt, dass ich bei interessanten Profilen ein Herz anklicken soll. Versieht der betreffende Nutzer mein Profil ebenfalls mit einem, werde ich benachrichtigt und darf mit ihm kommunizieren. Ich darf pro Tag fünf Profile betrachten, für unbeschränkten Einblick müsste ich 2,99€ monatlich zahlen, mit einem verpflichtenden Halbjahres-Abo. Was, wenn ich im ersten Monat jemanden finde? Muss ich dann noch fünf Monate lang eine Dating-App behalten, während ich eine Beziehung führe? Dafür bin ich einfach zu geizig und noch zu hoffnungsvoll.

Natürlich kann ich es nicht abwarten, die fünf Profile anzuschauen, sobald sie mit meinen Angaben „gematched" wurden, und werde sogleich bitterlich enttäuscht. Die Selbstbeschreibungen sind langweilig, erbärmlich oder voller Rechtschreibfehler. Kann man sich nicht etwas Mühe geben? Immerhin gleicht hier kein stark bearbeitetes Profilbild den schnöden Text aus. Ich atme tief durch, fasse mir an meine eigene Nase - immerhin macht auch mein Profil nicht sonderlich viel her - und warte auf morgen.
Ob das ganze im 24-Stunden-Rhythmus funktioniert? Schließlich habe ich die App am Mittag heruntergeladen, da könnten doch gleich morgen früh wieder fünf Profile einsehbar sein?

Sind sie nicht, stelle ich nach traumlosem Schlaf fest. Stattdessen prangt ein rotes Achteck oben rechts in der Ecke der App, auf dem in weißen Zahlen die Zeit rückwärts gezählt wird, die ich noch warten muss.

Auf der Arbeit begrüße ich Thorsten, schnappe mir seinen Joghurt aus dem Kühlschrank, und setze mich zu den Kollegen an den kleinen Tisch. Montags werden um sieben Uhr die Aufträge der ganzen Woche durchgesprochen. Heute bin ich mit meinem Stiefvater unterwegs zu dem Parkhaus, das sie zwei Städte weiter errichten. Dort arbeiten wir seit zwei Wochen daran, dass der Betonklotz gegen Wind und Erschütterungen stabil steht.

„Und, wie läuft jetzt das Dating, hast du's schon ausprobiert?" Tatsächlich hat Tim mir die App erst am Freitag empfohlen, und ich konnte mir den unwillkürlichen fiesen Gedanken nicht verkneifen, dass es nicht verwundert, dass er mit seinem Gesicht eine App wählt, in der man keine Fotos braucht. Ich verdrehe die Augen, untersuche, ob die Werkzeugkiste voll bestückt ist. „Ach komm, du findest doch locker wieder jemanden!", erklärt er mir, in den Türrahmen gelehnt. Seine Hand deutet an meinem Körper entlang hinab und hinauf, sodass ich mich ungleich frage, wieso er mir diese App empfohlen hat, wenn er mein Aussehen für den Garanten hält, wieder jemanden zu finden.

Ich schließe die Kiste, schaue zu ihm hoch. „Na klar, ich hab schon drei an der Angel." Ich lache ironisch und erkenne in seinen Augen, dass er einen Moment braucht, um es zu verstehen. Dann lacht er auch, macht eine heranwinkende Geste. „Zeig mal dein Profil!"
Innerlich verdrehe ich erneut die Augen. Hat er so viel Pech mit den Frauen, dass er sich an meinem nicht vorhandenen Liebesleben ergötzen muss? Immerhin ist auf meinem Profil nicht viel zu sehen und schwul bin ich auch. Keine Ahnung, was er sich davon verspricht.

Ich ziehe mein Handy aus der Jackentasche und halte es ihm hin. „Vorsicht, hinterher willst du mich noch daten.", scherze ich. Doch er ist schon dabei, neugierig meine Angaben zu durchforsten.

„Was ist Pilaw?", fragt er mit krausgezogener Nase und spricht es ganz falsch aus. Das hat er in der Sparte Lieblingsgericht gelesen. Warum auch immer potentielle Partner das interessiert. „Orientalisches Reisgericht.", murmele ich. „Super!", ereifert er sich sofort. „Dann merkt man, dass du kochen kannst! Das ist ein starker Pluspunkt!" Ich zucke die Schultern und höre ihn kichern. „Was ich nicht mag: Gräserpollen. Du spinnst ja!"

„Was hast du da stehen?", frage ich dann doch etwas verunsichert nach. „Unehrlichkeit." Ich nicke anerkennend, damit hat Tim mich überrascht. Er wirft einen letzten Blick auf das Display. „Wieso nennst du dich Hugo Victor? Klingt total komisch." Ich unterdrücke ein Lachen. Tja, denke ich, das ist gut, das zeigt, dass ich lese. Aber ob das ein Pluspunkt ist?
Tatsächlich habe ich den Namen in Erinnerung an meine Kindheit gewählt. Ein Buch mit hübsch verschnörkeltem Rücken stach mir aus dem Regal meiner Mutter immer ins Auge. Ich hatte gerade lesen gelernt und wählte den Namen, den ich darauf las - Hugo - für meinen derzeitigen imaginären Freund. Sicherlich war ich mit fünf Jahren zu alt für sowas, aber reale Menschen haben mich nie besonders interessiert.

Ich nehme das Handy an mich zurück und erkläre es ihm knapp. „Victor Hugo", sage ich es, in der unverdrehten Reihenfolge und mit französischer Aussprache. „War ein Schriftsteller." Ich klinge etwas hochnäsig, dabei ist mir tatsächlich am Vortag nichts besseres eingefallen. Und im Ernst, einer der Typen von gestern nannte sich Stecher007.

„Übrigens", ruft Tim mir hinterher, als ich zu Thorsten in den Wagen steige. „In einer Stunde ist die Wartezeit rum!" Ich werfe einen Blick auf die App, als mein Stiefvater losbraust, und stelle fest, dass er Recht hat. Vielleicht ja heute, denke ich.

Second Sight - Verliebt in eine PhantasieWhere stories live. Discover now