Markus

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Ich habe Markus kennengelernt, als ich so alt war wie du. Er war fast zehn Jahre älter, reif, grüblerisch, klug. Ich hatte das Gefühl, da sei endlich jemand, mit dem ich reden kann, der meinen Verstand fordert. Wir haben viel diskutiert und geredet, sonst nichts. Ich hatte keine Ahnung, was es bedeutet, dass ich gerne meine Zeit mit ihm verbracht habe, darum dachte ich, ich sei wohl verliebt. Wir sind also ausgegangen, nach kurzer Zeit habe ich praktisch bei ihm gewohnt, hatte nur wenig Zeit für meine Familie oder Freunde. Ich war wahrscheinlich glücklich am Anfang, aber so im Nachhinein möchte ich das nicht mehr glauben.

Es ist irgendwie alles schrittweise passiert. Er wollte Sex und ich dachte, das gehört eben dazu. Irgendwann kamen bei mir Fragen auf, was er überhaupt an mir findet. Wir haben kaum noch geredet, saßen meist nur nebeneinander, jeder mit eigenen Dingen beschäftigt, aber wenn ich jemanden treffen wollte, hat er mir ein schlechtes Gewissen gemacht, ich sei doch gerade mit ihm zusammen. Dann wollte er wieder Sex, zu oft für meinen Geschmack, aber ich habe mitgemacht. Irgendwie hatte ich immer die Befürchtung im Hinterkopf, wie genervt er von mir wäre, wenn ich Nein sage. Er hat mich nie explizit gedrängt. Nur seinen Wunsch deutlich gemacht. Und trotzdem hat er irgendwie dieses Bild von sich in meinem Kopf gepflanzt, wie er mit den Augen rollt, mich tagelang unterschwellig ignoriert, mir das Gefühl gibt, ich sei einfach unzulänglich.
Wir waren drei Jahre lang so zusammen. Jetzt bin ich seit einem Jahr wieder frei. Ich bin gerne Single, aber nicht gerne alleine. Klingt das erbärmlich? Vielleicht. Ich wollte einfach jemanden finden, der mich mögen kann, ohne dass ich Angst haben muss, dass er nur an Körperlichkeiten denkt.

Wie hast du es geschafft, dich zu lösen? Und wenn du jemanden kennengelernt hast, der dich mag, ohne an Körperlichkeiten zu denken, hast du dann Sorge, wie es ist, ihm zu begegnen?

Ich hatte schon seit einer Weile darüber nachgedacht, aber mich nie getraut, es auszusprechen. Wie hätte er das auch verstehen sollen, für ihn war ja alles gut. Und ich war überzeugt davon, dass er mich umstimmen würde, dass es dann noch unangenehmer würde.
Dann gab es diesen einen Moment, als er gefragt hat, ob ich mir nicht die Beine rasieren wollte, er würde das bei Männern mögen. Und als ich realisiert habe, dass ich wirklich darüber nachdenke, das zu tun, nur, damit er nicht böse wird, obwohl ich das selbst gar nicht wollte, ist bei mir eine Sicherung durchgebrannt. Als er nicht da war, habe ich meinen Kram aus seiner Wohnung zusammengesucht und bin abgehauen. Er hat mich eine Woche lang mit Nachrichten belagert, wieso ich nicht zurückkäme, was ich denn bei meinen Eltern wolle, ich sei doch kein Kind mehr, und so weiter. Ich hab ihm schließlich erklärt, dass ich ihn nicht mehr sehen will.

In dem Moment, als ich die Nachricht abgeschickt habe, ahnte ich bereits, wie Moritz sie aufnehmen würde. Schluss gemacht via Textnachricht? Feigling. Und er hat ja sogar Recht. Stattdessen kam aber eine andere Antwort.

Du fragst dich, wie er das gemacht hat, dass du immer das Gefühl hattest, er würde dir im nächsten Moment deine scheinbare Unzulänglichkeit spiegeln. Ich kann mir vorstellen, dass die Frage, ob du dir die Beine für ihn rasieren würdest, nicht das einzige war, das dir das Gefühl gegeben hat, er wolle dich verändern. Das Gefühl, nicht so angenommen zu werden, wie man ist, und das Gefühl, anders sein zu müssen, um jemanden glücklich zu machen, fügen sich doch ineinander. Ich kann gut verstehen, dass du es nicht mehr ausgehalten hast, und dass du Angst hattest, es ihm Auge in Auge beizubringen.

Irritiert habe ich auf die Nachricht gestarrt. Hatte er mich gerade analysiert? Ich musste lachen.

Wow. Das sind irgendwie tröstende Worte. Danke, Mr Rogers!

Dein Ernst? Rogers? Nicht Freud, damit ich weiß, dass du mir gerade weismachen willst, ich hätte wie ein berühmter Psychotherapeut für dich geklungen? :D

Ups... Psychologenkind... Freud hätte sowas sicher nicht gesagt.

So waren unsere Unterhaltungen. Ehrlich, tief, manchmal humorvoll, zumindest kam es mir auf subtile Art so vor.
Und ich hatte ein zunehmendes Bild von ihm vor Augen. Als ob mein Verstand nicht damit arbeiten konnte, sich mit jemandem gut zu verstehen, der nicht eindeutig als Mensch zu identifizieren war. Natürlich war er in meinem Kopf nur schemenhaft, ich wusste nichts über sein Aussehen. Er könnte in Wahrheit abstoßend für mich aussehen, aber nicht in meiner Vorstellung. Er war groß und schlank, hatte wunderschöne Hände und dunkles, weiches Haar.

Und so kam eben auch das zur Sprache.

Du bist gar nicht mehr darauf eingegangen. Hast du Sorge vor einer realen Begegnung?

Ja, definitiv. Aber ich freue mich auch sehr darauf, und dass du das gerade zur Sprache bringst, macht mich ganz kribbelig. Du willst mich sehen?

Ich will dich unbedingt sehen, Jonathan! Aber ich weiß nicht, ob ich will, dass du mich siehst.

Du hast Angst, dass ich enttäuscht bin und du es mir ansiehst?

Ja.

Und umgekehrt?

Dass ich enttäuscht sein könnte? Nein, sicher nicht. Mir ist es egal, wie du aussiehst. Ich hätte nur so gerne endlich ein reales Bild vor Augen.

Egal, bist du dir da sicher? ;)
Ich schlage dir was vor. Ich gebe dir meine Nummer. Wenn du willst, schickst du mir ein Foto. Dann musst du meine erste Reaktion auf dich nicht sehen. Wenn ich dir schreibe, wir können Freunde bleiben, weißt du allerdings trotzdem Bescheid.

Ich hänge die zwölfstellige Zahlenfolge an und warte.

Seit dreizehn Stunden warte ich auf die Antwort.
„Hey, was ist heute los mit dir?" Tim stupst mich an der Schulter an, dringt mit seinen wasserblauen Augen in meinen Kopf - nicht allzu tief. „Nur dieser Typ aus der App.", murmele ich, wenngleich sich die Bezeichnung für Moritz wirklich falsch anhört.
„Was's denn mit dem?" Ich zucke die Schultern, erkläre es dann aber doch.
„Ich hab ihn nach einem Bild gefragt und jetzt antwortet er nicht.", murmele ich vor mich hin. Lachend stupst Tim erneut gehen meine Schulter. „Alter, du gehst ja ran!" Stirnrunzelnd betrachte ich ihn. „Wann ist der richtige Zeitpunkt, um zu fragen? Wie lange sollte man sich kennen?" Tim guckt irritiert. „Ich hab meist nach ner Woche Nummern mit den Weibern getauscht. Und dann haben die ja eh mein Profilbild gesehen." Ich nickte andächtig.

Dann war ich nicht zu vorschnell gewesen? Wieso war Moritz so zögerlich? Er könnte doch einfach den Vorschlag ablehnen. Gerne würde ich eine weitere Nachricht hinterherschicken, dass das Zeit hat, dass er sich keine Gedanken machen soll und es tun, wenn er sich bereit fühlt. Aber das geht nicht, wegen der Appregeln.

Am Abend erreicht mich die Nachricht einer mir unbekannten Nummer. Und ich starre in Moritz Gesicht.

Second Sight - Verliebt in eine PhantasieWhere stories live. Discover now