Der Hübschere

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Einen Moment lang sitze ich weiterhin verdattert auf dem Bett. Wie hat er das gemacht? Wie hat er das gemacht, dass er mir eine Entschuldigung schuldet, aber ich mich jetzt schlecht fühle?

Überhaupt hat er mich ziemlich gekonnt abgelenkt. Kein Wort hat er zum Grund der Lüge gesagt. Und ich bin verlässlich auf die Geschichten über die Tattoos und das körperliche Ablenkungsmanöver angesprungen. Berechenbar. Nur wieso sollte er das geplant haben, was hat er davon? Er könnte mir einfach sagen, wieso er gelogen hat.

Wut treibt mich in meine Kleidung und aus dem Haus. Bald bin ich unterwegs zur Baumnamensiedlung, der Lärchenweg ist mein Ziel. Er kann mich nicht mit der Aussicht auf eine Erklärung herauslocken und mich dann ohne eine Andeutung stehen lassen. Ich will wissen, wieso er das getan hat. Dieses Mal wird er es mir erklären. Ohne Ausflüchte und Ablenkungen.

Je näher ich der Nummer 43 komme, desto weiter schrumpft das aufgebrachte Gefühl zusammen. Stattdessen habe ich ihn wieder vor Augen, wie er voller Enttäuschung auf das Foto herabschaut, das traurige Glänzen in seinem Blick. Das hat er mir nicht vorgemacht, das war echt. Und ich? Statt mir seine Erklärung anzuhören, im Zweifel dem Angeklagten die Darlegung seiner Sichtweise zu gestatten, falle ich über ihn her. Überfalle ihn mit etwas, das er vermutlich langsam angehen möchte, vorsichtig, mit einer Person, mit der er auch zusammen sein will.

Im Aufgang zu dem Familienhaus bleibe ich stehen, stemme die Arme in die Hüften und beruhige meinen Atem. Was, wenn seine Eltern mir öffnen? Auf gewisse Weise müssen sie eingeweiht gewesen sein, aber wissen sie von den neusten Ereignissen? Würden sie mich einlassen?

Ehe ich mich auf eine potentielle Begegnung mit ihnen vorbereiten kann, wird die Tür von innen aufgerissen und zwei Personen treten heraus. Eine kleine Blonde kichert, dicht gedrängt an die Seite eines selbstgefällig grinsenden Mannes. Richtig, fällt es mir wieder ein, es sind nicht seine Eltern, sondern Janniks.

Ich richte mich ganz auf, mache ein paar Schritte auf die Haustür zu. An seinem Blick erkenne ich genau, an welchem Punkt Jannik mich bemerkt, und seine Reaktion ist offen an seinem Gesicht abzulesen. "Jo, was...? Hör mal..." Überrascht schießen meine Brauen in die Höhe, bin ich es doch nicht gewohnt, dass jemand meinen Namen abkürzt. "Ist Moritz da?", fahre ich ihm über den Mund, nicht gewillt, mir eine an den Haaren herbeigezogene Beschwichtigung anzuhören. Das überlasse ich Mo, denn der hat mir immerhin eine versprochen.

Jannik nickt eilig, hält mir ohne ein weiteres Wort die Tür auf. Daran, ob es seinem Freund recht ist, wenn ich jetzt einfach eintrete, denkt er scheinbar nicht. Dafür hat er es allem Anschein nach auch aufgegeben, mich von ihm fernhalten zu wollen. Ist diese Geste hier sein Versuch einer Wiedergutmachung?

Kein weiteres Mal schaue ich in seine Richtung, nehme zwei Stufen auf einmal die Treppe hinauf, bleibe mit klopfendem Herzen vor Moritz Zimmertür stehen. Sollte ich klopfen und mich für meine Voreiligkeit entschuldigen? Darf ich hereinstürmen und eine Erklärung verlangen?

Ich entscheide mich kurzerhand für die zweite Methode, stocke jedoch, als die Tür lautstark mit der Wand kollidiert und den Blick auf Mo freigibt. Er hat sich auf seinem Bett zusammengekauert, bei dem Geräusch zuckt sein Kopf über die Arme empor, hinter denen er sein Gesicht versteckt hatte. Ich erkenne den Aufdruck auf seinem Shirt wieder. Es ist meins. Ein Blick an meinem eigenen Oberkörper hinab bestätigt mir die Verwechslung.

Vorsichtiger als noch beim Eindringen tapse ich auf ihn zu, erkenne mit jedem Schritt mehr Details. Wie er die Decke um seine Beine geschlungen und sie mit den Schenkeln umarmt hält. Wie gerötet seine Wangen aussehen. Wie feucht sein Atem klingt, als stecke das Schluchzen noch hinten in seiner Kehle fest.

"Es tut mir Leid, Mo. Ich wollte dich nicht bedrängen.", entkommt es mir. Unschlüssig bleibe ich vor ihm stehen. Ich kann das nicht sagen und mich dann ungefragt zu ihm aufs Bett setzen. Ein irritierter Blick trifft mich, huscht wieder davon und verbirgt sich in einer Raumecke. Eine gefühlte Ewigkeit lang folgt keine Entgegnung und ich lasse den Gedanken an ein wechselseitiges Gespräch ziehen. "Ich gehe danach, und wenn du das willst, dann melde ich mich nie wieder bei dir. Aber du hast mir versprochen, es mir zu erklären." Eben noch, als mich die Wut überkam, hätte ich sicher nicht gedacht, beim Einfordern der mir angekündigten Wahrheit so sanft zu klingen. "Sag mir einfach, wieso du mich belogen hast." Meine Stimme ist fast nur noch ein Flüstern.

Second Sight - Verliebt in eine PhantasieWhere stories live. Discover now