Das Herz

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Als wir Hand in Hand aus dem dunklen Saal in den überfüllten Gang treten, beginnt Emilia zu lachen.
Eigentlich bin ich noch böse auf Moritz, weil er mich ihretwegen ignoriert hat, doch Janniks Kuss und meine Erkenntnis haben mich erinnert, wieso ich mit ihnen ausgehe: Wegen Moritz, NUR wegen Moritz. Also vielleicht habe ich ihm den Kuss im Kino nur aufgedrückt und halte jetzt seine Hand, um für Jannik und auch für mich selbst ein klares Zeichen zu setzen.

„Oh, DAS hätte ich jetzt nicht erwartet!", tönt Emilia, die kein bisschen enttäuscht zu sein scheint. „Du hast wohl einfach ein Talent dafür.", schmunzle ich, doch sie ist bereits anderweitig beschäftigt.
„Dann habe ich wohl den Abend über versäumt, mein eigentliches Date kennenzulernen.", wendet sie sich mit gekonntem Augenaufschlag an Jannik, dessen Blick etwas unglücklich auf die Stelle gerichtet ist, an der Moritz und ich zwischen unseren Körpern verbunden sind.
„Also, unternehmen wir noch was?"

Auch Moritz schaut mich erwartungsvoll an und ich nicke vorsichtig. „Ich müsste alle Zutaten für Pizza dahaben. Wir können zu mir gehen." Begeistert klatscht Emilia in die Hände, hakt sich bei Jannik unter. Der Plan ist besiegelt.

Mit einem Handtuch über der Schulter stehe ich an der Arbeitsplatte und sortiere die Zutaten. Emilia soll - so als Halbitaliernerin - die übrig gebliebene Tomatensoße vom Vortag abschmecken. Ich bereite einen Teig zu, während die Jungs Käse reiben und Belag schnibbeln dürfen.

„Keine Salami?" Emilia schiebt schmollend die Unterlippe vor. Entschuldigend deute ich auf den Blondschopf, der sich am Küchentisch über eine gelbe Paprikaschote beugt. „Wir verzichten aus Solidarität." „Solidarität? Es ist seine freie Entscheidung, kein Fleisch zu essen. Keine Krankheit. Wieso kriege ich keine Salami?"
Ich seufze auf, finde ihr Verhalten irgendwie kindisch. „Du kriegst Champignons, in Ordnung?" Sie verdreht die Augen, gibt sich dann aber geschlagen.

Ein leises Räuspern lässt mich nach rechts blicken, wo Jannik unschlüssig die Artischocke in seinen Händen wiegt. Er bemerkt meinen Blick und sieht mich entschuldigend an. Seit dem Moment im Dunkeln sehe ich ihm das erste Mal wieder in die Augen, doch er weicht mir aus. „Ich kenne Artischocken nur aus der Dose. Wie funktioniert das?"
Ich rücke an ihn heran, nehme ihm das Gemüse ab und deute ihm an, was er zu tun hat. „Der Stiel muss ab und die äußeren Blätter, die sind zu holzig. Die inneren trennst du dann so ab." Er nickt und übernimmt wieder. Nach einer kurzen Weile räuspert er sich erneut. „Was passiert mit dieser Knospe?"

Ich kann mich einem gewissen Entzücken über seine Ahnungslosigkeit nicht erwehren, als er mir das innere Stück der Artischocke hinhält. „Das ist das Herz, mein Lieber. Das legst du auf dein Pizzastück."
Er mustert meinen Ausdruck, wie um herauszufinden, ob ich ihn veralbern will. „Ist das was Gutes?" Emilia neben mir kichert und lehnt sich an mir vorbei.
„Das ist das Beste, Süßer."

Bis die Pizza belegt und im Ofen ist, dauert es noch eine Weile. Die unangenehme Spannung mit Jannik ist fast vergessen, genau wie meine Enttäuschung über Moritz Ignoranz.

Wir kommen alle gemeinsam ins Gespräch, interessiert lausche ich den Fragen, die Emilia an die Jungs hat. Teilweise kenne ich die Antworten bereits, anderes wäre mir zu fragen nie eingefallen. Sie will wissen, ob Moritz gerne Shoppen geht, ob die beiden sich eher als beste Freunde oder als Brüder sehen, und dann spricht sie Jannik vollkommen indiskret darauf an, ob es stimme, das bisexuelle Männer beim Sex mit anderen Männern lieber den dominierenden Part übernehmen.

Seine Wangen nehmen in Rekordzeit eine rötliche Färbung an und - wie schon beim letzten Mal, als in meiner Gegenwart die Sprache auf das Thema kam - greift er nach seinem Getränk und leert es in einem Zug. Dieses Mal scheint er sich aber zu fassen und gibt eine Antwort. „Ich schätze, das kommt auch auf den Partner an."

Emilias Neugier aber ist natürlich noch nicht gestillt. Sie zeigt zwischen Moritz und mir hin und her, schaut aber immer noch Jannik an. „Was glaubst du, wer bei den beiden ‚oben' wäre?"
Ich kann sie nur völlig perplex anstarren. Merkt sie überhaupt, dass sie mit dieser Frage nicht nur eine Grenze überschreitet, sondern auch die unausgesprochenen Beziehungsdynamiken anstößt, die im Raum stehen?

Janniks Blick liegt auf mir, dann auf seinem besten Freund. „Das will ich mir wirklich nicht vorstellen.", macht er deutlich. Rettend piept der Wecker an meinem Ofen.

"Tut mir Leid, Jonathan." Jannik steht hinter mir, als ich das Blech aus dem Ofen ziehe und auf dem Kochfeld ablege. Er hält mir zwei leere Teller hin und wartet, bis ich sie beladen habe. "Emilia kann unmöglich sein.", widerspreche ich kopfschüttelnd. Immerhin hat er wirklich sehr diplomatisch und nichtssagend geantwortet und es gibt keinen Grund für ihn, irgendeine Schuld auf sich zu nehmen.

Abwartend blicke ich auf in sein Gesicht, als er mit den vollen Tellern immer noch neben mir steht. "Wegen vorhin.", murmelt er. "Das war nicht... Ich weiß ja, dass du ihn... Dass du ihn magst." Sein zögerliches Sprechen und die Art, wie seine Augenlider flattern, bevor er den Blick senkt, veranlassen ein Holpern in meiner Brust. Wie wenn man beim Anfahren den Motor abwürgt. Im zweiten Anlauf röhrt es auf und gibt Gas, mein Herz. Verdammt, Jannik! Ja, ich mag ihn, aber ich mag, wie er schreibt, nicht, wie er mit meiner Nachbarin flirtet. Und ich mag dich, wie du rot wirst und nur Augen für mich hast. Obwohl ich weiß, dass du gerade nur alles daran setzt, dass Moritz mich nicht kriegt, und du ein verdammt guter Schauspieler bist, mag ich dich.

Mein Blick huscht zur Türöffnung Richtung Wohnzimmer, kontrolliert, dass keiner der beiden uns sieht. Es ist nicht mein Verstand, der mich anleitet, als sich meine Hand an seine Hüfte schiebt, ihn ruckartig zu mir heranzieht, sodass er die mit den Tellern beladenen Arme zur Seite schwenken muss und unsere Mitten aufeinander treffen, meine Lippen seine Ohrmuschel streifen. "Ich mag dich.", höre ich mich raunen. Und genieße den Moment mit seinem erhitzten Körper so nah an meinem, zum zweiten Mal an diesem Tag, genau so lange, bis Sekunden später eben noch vermisster Verstand wieder ans Laufen kommt. Wie soll ich das bloß Moritz erklären? Dem ich versprochen habe, dass ich ihn kennenlernen will, nicht seinen besten Freund?

Verblüfft starrt Jannik mich an, schüttelt seinen Kopf. "Nein, das geht nicht.", erklärt er verwirrt. Aber hat er nicht genau das gewollt? Oder hat er nur bezwecken wollen, dass ich - ohne ihn zu mögen - ihn begehre und Moritz so wieder freigebe? "Du magst ihn.", erklärt er mir erneut. Und macht mir so die Zwickmühle bewusst, in der ich mich befinde. Ja, ich mag Mo. Aber es reicht mir nicht, zu mögen, wie er schreibt. Und auch wenn ich mich mit Jannik vielleicht nie auf so einer offenen, tiefen Ebene wie mit Mo austauschen könnte, kommt mir alles mit ihm viel realer und belastbarer vor. Vielleicht war die App von vornherein eine blöde Idee. Vielleicht ist es hinderlich, so viel über einen Menschen zu wissen, bevor man ihn trifft. Vielleicht ist es zum Verlieben gerade wichtig, einiges nicht zu wissen, es erst mit der Zeit herauszufinden. Oder vielleicht funktioniert es bloß bei mir so.

Und vielleicht bin ich auch schlicht verwirrt wegen Janniks Spiel und wegen seines verdammt schönen Körpers. Und seines Gesichts. Immerhin bin ich nicht gerade in ihn verliebt und die Vorstellung, mit ihm eine Beziehung aufzubauen wäre in vielerlei Hinsicht hirnrissig. Nicht nur, dass er ein ziemlicher Aufreißer ist, der vermutlich sämtliche Bindungsängste kanalisiert, die man sich ausmalen kann, er ist eben auch der beste Freund und "Bruder" des Mannes, mit dem ich mich eigentlich treffe. Also wieso, wieso sage ich sowas?

Auch ich schüttele den Kopf, rücke von Jannik ab. Er hat ja recht, das geht nicht. "Tut mir leid, ich..." "Schon gut!", fällt er mir ins Wort, presst ein trockenes, leises Lachen hervor. "Du warst verletzt, weil er mit Emilia geredet hat, dann habe ich den Moment ausgenutzt und das hat dich verwirrt. Alles in Ordnung. Es ist nichts passiert."

Stirnrunzelnd mustere ich seine Rückseite, als er die Teller ins Wohnzimmer herüber trägt. Seine wunderschöne Rückseite. Wie kann er jetzt so gefasst sein? Nichts passiert? Und wieso trifft mich das so? Es ist doch gut, wenn nichts passiert ist.

Second Sight - Verliebt in eine PhantasieWhere stories live. Discover now