Fremder

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In der Mittagspause besorge ich mir an der Imbissbude eine Falafeltasche und ziehe mein Handy hervor.
Schlitzohr37 wird mir angezeigt. Schlitzohr nennt sich laut Selbstbeschreibung so, weil er gepierct ist. Nicht nur an den Ohren.
Zuckerschnutte, tatsächlich mit zwei t geschrieben, ist mit einer Frau verlobt, möchte aber vor der Ehe noch ein paar Erfahrungen sammeln.

Fremder1315 ist der nächste. „Um mich dir selbst zu beschreiben, müsste ich mich kennen. Ich gebe dir gerne Bescheid, wenn ich etwas über mich in Erfahrung bringe.", schreibt er kryptisch und sofort ist es mir sympathisch, dass er mit dieser Angabe etwa soviel anfangen konnte wie ich. Sind die vier Zahlen Zufall? Oder ist der erste März 2015 irgendein besonderer Tag für ihn?

Er schwimmt, spielt Badminton, geht joggen und isst gerne. Vorzugsweise Spinatrisotto. Wieder frage ich mich, wer diese App konstruiert hat und ausgerechnet die Leibspeisen erfragen wollte. Bei den übrigen Nutzern habe ich in diesem Feld oft Pizza und Döner gelesen. Wie extravagant. Ob Fremder1315 sein Spinatrisotto auch selber kocht? Außerdem singt er gerne unter der Dusche - sympathisch, dass er das zugibt.

Er mag es nicht, wenn man ihn drängt, jemand zu sein, der er nicht ist. Verständlich, denke ich. Und ein guter Ansatz, zu wissen, wer man nicht ist, wenn man von sich sagt, dass man sich noch kennenlernt. Ob das eine Andeutung darauf sein soll, dass er nicht geoutet ist?
Sein liebstes Reiseziel wäre eine Talhütte in den Alpen, er wandert gerne. Er mag Kühe und Hühner und Füchse. Eine explosive Kombination.

Seine besten Eigenschaften hat er mit einem Fragezeichen versehen. Bei seinen Schwächen sieht es anders aus. „Ich bin schüchtern, ängstlich, leise, nachtragend, fresse meine Wut in mich hinein, bis ich in die Luft gehe. Ich gebe mir Mühe mit allem, was ich tue, bin also nicht der Schnellste. Ich bin neugierig, aber selber eher verschlossen. Ich würde gerne sagen, dass ich das ablegen könnte, in einer engen Beziehung. Aber ich habe keine Ahnung, ob das wahr wäre."

Ich will das Herz antippen, als ich verwundert feststelle, dass die schwach gezeichnete Umrandung sich bereits mit Farbe gefüllt hat und das Symbol animiert zu pulsieren scheint. Wann hat mein Finger das denn entschieden?

Ich betrachte auch noch die nächsten beiden Profile, könnte allerdings schon Sekunden später nicht mehr sagen, wie überhaupt ihre Profilnamen waren.
Und als ich das Handy gerade aus der Hand legen will, einhändig die Alufolie knülle, die um mein Mittagessen geschlungen war, leuchtet ein Banner in der App auf.

Herzlichen Glückwunsch, Sie wurden mit Fremder1315 gematched!

Irritiert halte ich in jeder Bewegung inne. Ich muss zurück zur Baustelle, die Pause ist gleich um und Thorsten braucht mich.
Bedeutet es das, was ich denke? Hat ihm mein Profil auch gefallen? Aber ich habe es erst gestern erstellt, wann hat er es gesehen? Bezahlt er womöglich für die App? Macht ihn das zu jemandem, der es dringend nötig hat?
Immerhin, denke ich, bedeutet es, dass er die App aktiv nutzt und nicht bloß ein uraltes Profil von ihm im Internet schlummert.

Ich zwinge mich, die Gedanken an den Fremden beiseite zu schieben, und begebe mich zurück an die Arbeit. Leider - und das ist das erste Mal, dass es mich stört - beschäftigt die Tätigkeit vor Allem meinen Körper, weniger meinen Geist, der sogleich wieder über das Profil des anderen Mannes nachdenkt.

Was hat es zu bedeuten, dass er so negativ über sich schreibt, und nichts Positives zu sagen hat? Ist jemand, der mit sich selbst nicht im Reinen ist, wirklich ein potentieller Partner für mich? Geschweige denn für irgendjemanden? Aber wer ist schon mit sich im Reinen? Und was sagt es über mich, dass ich das sympathisch finde?

„Wo bist du denn heut' mit deinen Gedanken, Junge?" Thorsten mustert mich neugierig, nimmt mir das benötigte Werkzeug aus der Hand. Ich zucke die Schultern. „Hat das was mit der App zu tun, die Tim dir empfohlen hat? So schnell jemanden gefunden?" Erstaunt blicke ich ihn an. Kann er mir ansehen, dass ich an einen anderen Mann denke? Und woher weiß er...? „Weiß eigentlich die ganze Belegschaft über mein erbärmliches Liebesleben Bescheid?", grummele ich, ohne wirklich böse darüber zu sein. Die Männer sind manchmal etwas zu flapsig für meinen Geschmack, ihr Humor kann beleidigend werden, aber sie sind auch wie eine erweiterte Familie für mich. „Nicht nur über deins.", feixt Thorsten. „Tim ist eben eine Plappertüte." Ich schmunzele über die Bezeichnung, knie mich neben ihn, um das Material glattzustreichen, das er in die Bodenfuge gießt.

„Also?", lässt Thorsten sich nicht vom Thema abbringen. „Schreibst du schon mit jemandem?" Erschrocken reiße ich die Augen auf. Ich wurde gematched, also muss ich ihm jetzt schreiben? Oder überlasse ich das ihm? Immerhin beschreibt er sich als schüchtern, aber bin ich das nicht auch? Und wie fange ich ein Gespräch mit einem Fremden an?

Thorsten klopft mir auf die Schulter, als ich ihm ein abwesendes Nicken schenke. Er versteht, dass ich keine Lust habe, das breitzutreten.

Den restlichen Arbeitstag über denke ich an nichts anderes als daran, wie ich ihm am besten schreiben soll. Es sollte interessant sein, ein bisschen etwas über meine Person offenbaren. Ein langweiliges „Hallo, wie geht es dir?", fällt also von vornherein weg. Ich könnte auf etwas eingehen, das ich über ihn weiß. Seine vermeintlich negativen Eigenschaften eignen sich dafür allerdings kaum und der Sport, den er macht, hat für mich auch keinerlei Bedeutung. Er isst gerne, hat er angegeben. Bei meinen Hobbys steht, dass ich koche. Aber darüber den Bogen zu schlagen, wäre doch etwas voreilig? Und sich über Gerichte zu unterhalten ist kaum besser, als das Wetter zur Sprache zu bringen.
Auch sein Profilname bietet nicht viel Angriffspunkt, und würde ich mit dem einsteigen, was er nicht mag, wären wir recht bald in philosophische Diskussionen verstrickt.

Mit einem wissenden Grinsen entlässt Thorsten mich um halb vier am Nachmittag in den Feierabend. Er kennt mich gut, weiß, dass ich mir immer über alles mehr Gedanken mache als nötig. „Mach dir nicht so viele Sorgen, Jonathan. Du bist klug und siehst gut aus. Wenn es der nicht ist, dann ist es ein anderer."
Ich verdrehe die Augen. Wieder ein Hinweis auf mein Aussehen. Zwar würde ich ihm nicht direkt widersprechen - durch die handwerkliche Arbeit und die regelmäßigen Besuche im Fitnessstudio habe ich einen halbwegs trainierten Körper, bin etwas größer als der männliche Durchschnitt. Mittelblondes, langweilig geschnittenes Haar, gemischtblaue Augen. Ich habe ein markantes Kinn, das Markus immer wieder gelobt hat. Genauso wie meinen angeblich fantastischen Hintern. Aber genau deshalb wollte ich doch von den Äußerlichkeiten weg.

Zuhause sitze ich auf meinem Bett und öffne zögerlich die App. Sie können Fremder1315 eine Nachricht schreiben. Beachten Sie, dass die Nachrichten immer im Wechsel geschrieben werden. Erhalten Sie keine Nachricht, können Sie keine weitere senden. So garantieren wir allen unseren Nutzern, dass sie nicht zugespamt werden.
Genervt seufze ich auf. Ist das deren Ernst? Und was soll überhaupt dieses Denglisch? Mal sind es User, mal Nutzer, ...
Ich verstehe den Gedanken dahinter, dennoch kommen mir bereits ein paar Szenarien in den Kopf, bei denen diese Regelung ärgerlich wäre. Außerdem setzt sie mich zusätzlich unter Druck, die richtigen ersten Worte zu finden.

„Hey, ich bin neu hier, du bist mein erstes Match.", tippe ich und lösche es zähneknirschend schnell wieder. Das klingt naiv und erbärmlich und ich bin nicht besser als der Programmierer der App, wenn ich mich als ein Match bezeichne.
Also? „Wieso ist deine Wahl ausgerechnet auf diese App gefallen?" Langweilig, auch wenn es mich wirklich interessiert. Irgendeinen Grund muss es auch bei ihm geben.
„Ich habe heute die erste Hummel des Jahres gesehen und musste an dich denken." Ich schmunzele vor mich hin. Das einem Fremden zu schreiben ist genau mein Humor, aber ich muss ihn ja nicht gleich mit der geballten Ladung Jonathan überfordern?

Ich seufze in die leere Wohnung hinein laut auf, höre den kläglichen Widerhall von den bilderlosen Wänden. Noch immer habe ich keine meiner Fotografien gedruckt und aufgehängt, dabei wohne ich seit fünf Monaten hier.

Es ist nur ein Fremder, weise ich mich schließlich selbst zurecht. Wenn er nicht antwortet, kann es mir egal sein. Ich betrachte das leere Feld und tippe: „Entschuldige, wo geht es hier zu den Toiletten?"
Okay, das ist noch schlimmer. Und er könnte Hintergedanken vermuten, was eindeutig gar nicht geht.
Ohne weitere Zweifel zuzulassen, entscheide ich mich für den Spruch mit der Hummel. In dem Moment, als ich auf Senden klicke, erklingt ein Ton, den ich noch nicht kenne. Stöhnend betrachte ich den Bildschirm und damit das ganze Ausmaß meiner Blödheit. Jetzt wird er sicher nicht mehr antworten.

Fremder1315:
Was du gerne liest, muss ich wohl nicht fragen, Hugo. Aber vielleicht erzählst du mir, was du gerne fotografierst?

Hugo Victor:
Ich habe heute die erste Hummel des Jahres gesehen und musste an dich denken.


Second Sight - Verliebt in eine PhantasieWhere stories live. Discover now