Kartenspiel

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"Und seitdem ist er im Schwimmbad nie wieder auf eine Rutsche gegangen.", kichert Moritz, während Jannik augenrollend als letzter durch die Wohnungstür tritt und seine Schuhe von den Füßen streift. Moritz kickt sie wie ich mit den Fußspitzen an der Ferse von den Füßen, während Jannik tatsächlich auf einem Bein stehend die Schleifen löst und 
sie mit den Händen lockert, bevor er herausgleitet.

Er schaut auf und betrachtet die Wand im Flur, die mittlerweile hier und da mit ein paar Bildern behängt ist. "Wohin?", fragt Moritz und deutet auf die drei Türen, die von dem schlauchartigen Raum abgehen. Ich stubse die  Tür zur Küche auf, in der ein kleiner Esstisch steht und reiche ihm ein Bier aus dem Kühlschrank an. "Auch ein Bier, Jannik?", rufe ich, da er uns noch nicht gefolgt ist. "Ich nehme ein Wasser, bitte.", ruft er zurück. Was macht er denn da noch?

"Ich hab keins kaltgestellt.", rufe ich wieder, hoffe, dass er langsam näher kommt, damit wir das Gespräch auf normaler Lautstärke   fortführen können. Tatsächlich steht er plötzlich im Türrahmen, als ich mit einem zweiten Bier in der Hand die Kühlschranktür zufallen lasse. "Ich trinke das aus der Leitung.", erklärt er bescheiden. Achselzuckend fülle ich ihm ein Glas und reiche es ihm herüber. Als er es mir abnimmt, schaut er mir in die Augen, weicht nicht mehr aus, wie zuvor.  "Die  Rotbuche hast du schön getroffen.", sagt er und bringt mich zum Grübeln.

Ich muss lachen: Deswegen stand er im Flur, er hat sich meine Bilder angeschaut. Eine Rotbuche ist das also, denke ich, denn für mich waren es auf dem Fotostreifzug einfach nur ein Baum und in seinen Blättern schillerndes Licht im Spätherbst. Im Flur hängen ein paar Naturfotos, in Küche und Wohnzimmer meine schönsten Schnappschüsse fremder Leute in   lustigen Momenten. Über dem Esstisch der alte Mann, der vor der tiefroten Fassade eines griechischen Restaurants sitzt und Tauben   füttert. Über dem Sofa mein Lieblingsbild: Das Paar unter den Kirschbäumen mit den Grafitis im Hintergrund.

"Danke.", erwidere ich, registriere aus dem Augenwinkel eine Bewegung von Moritz, der lässig an meiner Küchenzeile lehnt. "Siedeln wir ins Wohnzimmer um?", schlage ich vor und zeige ihnen den Weg.

"Du hast es hier wirklich gemütlich. Ist bestimmt schön, alleine zu wohnen." Moritz schaut sich lächelnd im Raum um, scheint festzustellen, dass mein Sofa um einen kleinen Tisch herum angeordnet ist, statt auf einen Fernseher ausgerichtet. "Kein Fernseher?" Ich zucke die Schultern, finde, das ist Antwort genug. "Aber du schaust schon manchmal Filme, oder?" "Nein, niemals.", lache ich. "Ich kenne ein paar Klassiker und gehe auch ab und zu ins Kino, ja." "Hm.", kommt es von Moritz, als müsse er das erstmal verarbeiten. "Ich hatte eine Englischlehrerin, die meinte, sie liest sich lieber die Rezensionen durch, als die Filme zu   schauen.", fällt ihm ein. Jannik kichert. "Frau Menzel?", wirft er ein, Moritz nickt. An mich gewandt erklärt er: "Sie war ungefähr hundert   Jahre alt."

"Ihr zwei schaut gerne Filme, ja? Lasst mich mal raten: Science Fiction? Mhh, Star Trek?" Ich bemerke Janniks schmunzelnde Musterung auf meinem Gesicht. "Also falls du auf Harrison Ford anspielst, dann meinst du wahrscheinlich Star Wars." "Autsch!", fällt Moritz mit ein. "Vielleicht gehen wir lieber, war ein schöner Tag, Jonathan." Sein Lachen verrät mir, dass er es mir kein Bisschen übel nimmt. "Ich bin allerdings wirklich mehr für Star Trek." Jannik zuckt die Schultern. Will er mir damit irgendwas sagen? Dass er nicht viel für Harrison Ford übrig hat? Moritz stöhnt empört auf. "Nicht dein Ernst, fang bloß nicht an, Jonathan zu beeinflussen! Er ist noch völlig unverdorben!" Kopfschüttelnd stoße ich beide an der Schulter an, synchron schwingen sie   zurück und kichern wie kleine Jungen.

"Was machst du eigentlich beruflich, Jannik?" Immerhin weiß ich über Moritz schon einiges, über seinen Freund aber fast nichts. Fast erwarte ich, etwas über Pflanzenkunde zu hören, doch er überrascht mich. "Ich studiere Maschinenbau.", murmelt er. "Wow! Wie weit bist du denn?" Er schielt zu Moritz herüber, als sei es ihm unangenehm, auf meine Fragen zu antworten. Fühlt er sich schuldig, weil er meine Aufmerksamkeit von seinem Freund abzieht? "Viertes Semester." Ich nicke, frage mich, wie ich die Stimmung auflockern soll, wenn schon so unverfängliche Fragen ihn in Bedrängnis bringen. "Ist bestimmt spannend, wenn man ein Mathegenie ist."

Dann fällt mir etwas ein. "Wir könnten was spielen. Ich hab Karten da. Und dieses... wie heißt das denn, wo man immer Sachen malen oder pantomimisch darstellen muss?" Moritz lacht. Ich folge seinem Blick und bemerke, wie Jannik blass geworden ist. "Bitte Karten.", fleht er und ich muss in Moritz weiter angefeuerte Lachsalven einsteigen. Ich stelle mir vor, dass Jannik wirklich ein grauenhafter Zeichner sein muss und würde es eigentlich gerne sehen.

Weil die beiden die Skatregeln nicht kennen und ich mich einmal mehr wie ein körperlich junggebliebener Senior fühle, einigen wir uns auf Mau-Mau. "Wer verliert, muss eine Frage beantworten.", lege ich fest, denn ein bisschen zur Unterhaltung beitragen sollte das Spiel ja schon. Sie sind einverstanden und natürlich verliere ich prompt in der ersten Runde.

Tuschelnd stecken Jannik und Moritz ihre Köpfe über meinem Schoß zusammen, ich lehne mich umzingelt zurück. "Was ist deine schlimmste Eigenschaft?", fragt Moritz. "Was, wir fangen also gleich mit den ganz fiesen Sachen an, ja?", maule ich halbernst. "Leider ist das zu einfach. Ich nehme mich selbst zu ernst. Ich hasse es, wenn jemand einen Witz   auf meine Kosten macht, und bin unheimlich empfindlich, wenn man mich nicht versteht. Meine Mutter sagt, das macht mich ein bisschen verbohrt." Moritz nickt verstehend, Jannik schüttelt langsam den Kopf. "Ich finde nicht, dass etwas schlimm daran ist, ernst genommen werden zu wollen." Dankend lächle ich ihn an, sammle die Karten zusammen und   mische für die nächste Runde.

Moritz eine Frage zu stellen, fällt schwerer. Jannik scheint so gut wie alles über ihn zu wissen und ich habe das Gefühl, alles, was mir   einfällt, schon einmal gefragt zu haben. "Oh, ich hab' eine.", verkünde ich, ohne mich noch mit Jannik abzustimmen. Denn die hier kennt er bestimmt nicht. "Wenn du ein Tier wärst, welches wärst du?"

Moritz wirft lachend den Kopf in den Nacken. Er überlegt eine Weile, in der er bereits neu die Karten auslegt. Dann schaut er mich an und   schmunzelt. "Ein Waschbär vielleicht." Ich grüble noch über die Bedeutung seiner Antwort, als die beiden mich bereits wieder verlieren lassen.

"Was ist für dich in einer Beziehung das Wichtigste?" Meine Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen. "Respekt."

Dann ist Jannik an der Reihe, zu antworten. Moritz, der vielleicht durch das Bier, vielleicht durch die tatsächlich eingekehrte   freundschaftliche Stimmung viel ausgelassener ist, als nach seiner Selbstbeschreibung zu vermuten wäre, stellt ihm eine Frage, bevor ich   auch nur darüber nachdenken kann, was ich wissen wollen würde. "Wenn ich Sex sage, woran denkst du als erstes?"

Ich blinzle verwirrt. Nicht nur, dass ausgerechnet Moritz das Thema auf den Tisch bringt, oder dass wir noch nicht mal angetrunken sind. Auch die Art, wie er fragt, die fast so klingt, als ginge es um Janniks   Kunstgeschmack. Will ich das wissen? Auch Jannik starrt seinen Freund verblüfft an, ganz kurz zuckt sein Blick - hilfesuchend, peinlich berührt? - zu mir, dann zurück zu Moritz. Vom Hals her läuft sein Gesicht rasch rot an, er greift nach seinem Glas und leert es in einem   Zug. Sein Blick bleibt auf die Tischplatte geheftet und mir wird klar, dass der Moment, um auf diese Frage zu antworten, verstrichen ist.

Zu laut in meinen Ohren klopfe ich auf die Tischplatte und klettere kurz darauf über Moritz Beine hinweg vom Sofa. "Ich hole ein paar Salzstangen. Soll ich dein Wasser auffüllen, Jannik?" Er reicht mir wortlos sein Glas über die Sofalehne herüber, ich lasse die Freunde in ihrem Schweigen zurück. Was für ein komischer Moment, denke ich, und kann mich nicht entscheiden, ob mich die Frage oder die Reaktion darauf mehr überrascht haben. Ich weiß, woran ich zuerst denke, wenn jemand  Sex sagt: An etwas anderes als noch bevor ich das blöde Foto gesehen  habe. An einen schönen dunkelhaarigen Mann unter meiner Dusche, in meinen Laken, auf meinem Esstisch. Verdammt!

Mit den versprochenen Salzstangen nähere ich mich lautlos dem Wohnzimmer und beobachte das Gespräch, das zwischen den beiden Jungen abläuft. Beide haben sich von ihren Positionen, jeweils am Rand des Sofas, einander entgegen gelehnt. Ihre Augen sind verengt, Raunen hallt   zu mir herüber. Jannik scheint dringlich etwas zu erklären, Moritz reagiert etwas ruhiger, ich meine, seine etwas flapsige Art herauszuhören. Jannik schüttelt energisch den Kopf, seine Miene verändert sich, er scheint Moritz um etwas zu bitten, das ihm wichtig ist. Der lehnt sich nun zurück und nickt kaum merklich. Nanu?

Second Sight - Verliebt in eine PhantasieWhere stories live. Discover now