Im Fokus

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Meine Schritte halten ganz von selbst inne, als ich der Lichtung vom Wald aus näher komme. Ich habe ein paar hübsche Momente von jungen Blättern im Rampenlicht eines Sonnenstrahls eingefangen, doch mein eigentliches Ziel ist die Blühwiese, die der Naturschutzbund im Einvernehmen mit der Stadt angelegt hat. Direkt am Waldrand wird eine etwa zwei Hektar große, abschüssig liegende Wiese von Blumen aller Art überwuchert. Besonders habe ich die kleinen gelben in Erinnerung, die durch das restliche Farbgemisch energisch hindurch leuchten.

Ich hebe meine vor der Brust baumelnde Kamera an und führe sie vor mein rechtes Auge. Ich muss ganz leise sein, wenn ich ihn nicht aufschrecken will.

Ein Mann liegt in der Wiese. Um ihn herum quillt das blühende Leben hervor, doch er liegt einfach da, das Gesicht gen Himmel gerichtet. Hatte er keine Angst, auf der ein oder anderen Biene zum Liegen zu kommen? Oder von einem der Naturschützer gescholten zu werden für das Zerdrücken der kostbaren Blumen?

Ich verstelle den Fokus, zoome ein wenig näher noch heran. Ich sehe sein Haupt von oben, nur das dunkle, zerzauste Haar und eine Nasenspitze hinter einem Stück Stirn. Seine Arme sind in meine Richtung gebreitet, der Kopf ruht auf den verschränkten Fingern. Weiter hinten ragen Schuhspitzen aus dem Bunt hervor.

Irritiert betrachte ich ihn durch meine Linse genauer. Ich muss mich irren, das kann er nicht sein. Lautlos betätige ich den Auslöser, um den Ausschnitt dann doch noch weiter zu vergrößern. Nur um sicher zu gehen.

Mo?

Ich schüttele den Kopf über mich selbst, denn wieder liege ich falsch. Nicht Moritz.

Ich nähere mich dem entspannt aussehenden Körper weiter, bemüht, auf dem kleinen ausgetretenen Pfad am Rand des chaotischen Beetes zu bleiben. Er trägt Laufklamotten. Der atmungsaktive Stoff seines Shirts spannt über seiner Brust, jede Kontur ist sichtbar. Die Arme, die ich aus anderer Perspektive soeben in einem Foto festgehalten habe, ragen schlank, aber muskulös darunter hervor. Seine Beine verschwinden optisch hinter und unter den Halmen, die er nicht umgeknickt hat mit seinem Gewicht.

"Jannik?", frage ich vorsichtig von der Seite, beobachte seine aufflatternden Lider, denke kurz an einen Schmetterling, den ich beim Trinken aus einer Blüte gestört habe.

Er öffnet die Augen, blickt zu mir herüber, und sucht dann hinter mir scheinbar nach einer weiteren Gestalt. "Du bist doch Jannik, oder?", präzisiere ich die Frage, obwohl ich mir doch ziemlich sicher bin, schließlich habe ich ein gewisses Foto in den vergangenen Tagen eingehend betrachtet. Ihn nun "in Echt" zu sehen, fühlt sich sonderbar an, nimmt ihm das ganze Potential, das er in seiner zweidimensionalen Version inne hatte. Diesem hier kann ich nicht meine Phantasien aufladen: Er wird so sein, wie er eben ist. Und gleichzeitig ist er noch immer erstaunlich schön, sodass es mir schwerfällt, meinen Blick von ihm zu lösen.

Er räuspert sich, nickt dann, seine Augen zucken nervös hin und her. "Bist du Jonathan?", fragt er zurück.

Ich nicke, verwundert über das rasche Erkennen. Mo hat ihm von mir erzählt. Mo hat ihm nicht nur von mir erzählt, sondern ich bin der einzige Mann in meinem Alter, der Janniks Namen kennt, den er aber noch nie gesehen hat. Oder bloß der wahrscheinlichste im Wald anzutreffende.

Lächelnd tapse ich durch die Blüten auf ihn zu und lasse mich neben ihm nieder. Bitte keine Biene, denke ich, und bleibe fürs Erste unversehrt. "Was machst du hier?", erkundige ich mich, deute unbestimmt über die freie Fläche hinweg. Er schmunzelt und lässt ein feines Grübchen in seiner rechten Wange erscheinen. Ob es deutlicher wird, wenn er richtig strahlt? "Ich bin umgeknickt beim Laufen und wollte eine Pause machen."

"Schlimm umgeknickt?" Er richtet sich etwas auf, stützt sich hinterrücks auf durchgestreckten Armen ab und hinterlässt einen von grün dominierten Teppich abgeknickter Halme und Stängel dort, wo sein Oberkörper lag. Dann zuckt er die Schultern. "Geht schon, ich hab nur Schmerzen beim Auftreten.", spielt er es herunter, wobei ich mich frage, was die schlimmere Option wäre als Schmerzen beim Auftreten.

"Und was machst du hier?", fragt er zurück. Ich merke, wie er leicht von mir weggelehnt da liegt, wie seine Augen unablässig neugierig mein Gesicht absuchen. Was hofft er, zu finden? Ein wenig sieht er aus, als sei er sich nicht sicher, ob er sich mich nur einbildet.

Ich hebe in einer erklärenden Geste die Kamera leicht an, die an einem breiten Band um meinen Hals baumelt. "Ich hab' eben ein Erdmännchen gesehen, im Wald."

Seine Brauen treffen sich in der Mitte seiner Stirn, eine etwas höher als die andere. Sein Mundwinkel zuckt. Der linke dieses Mal. Kein Grübchen. "Ein Erdmännchen.", wiederholt er. Ich sehe, dass er mir nicht glauben will, sich für den Scherz wappnet, doch meine Ernsthaftigkeit scheint ihn zweifeln zu lassen.

"Ja, es saß mitten auf dem Weg, du weißt schon, so auf den Hinterläufen, wie man das von Erdmännchen kennt.", erläutere ich und versuche, mit vor der Brust abgeknickten Armen einen Teil der typischen Haltung nachzuahmen. Jannik grinst, wartet auf weitere Erklärungen. "Dann ist es mir sogar entgegen gekommen. So wuselig, nicht richtig gerade aus, aber auch nicht Haken schlagend. Das hast du bestimmt mal in einer Doku gesehen." Er nickt, das Grinsen schwindet langsam aus seinem Gesicht. Ich bemühe mich stark, die Regungen meines Gesichts zu unterdrücken, als ich merke, wie er versucht ist, mir Glauben zu schenken.

"Ich dachte echt, ich kriege es auf ein Bild, es war schon ziemlich nah, dann ist es wieder stehen geblieben."

Jannik hängt an meinen Lippen. "Und dann?"

Ich antworte mit völliger Ernsthaftigkeit. "Dann ist es weggeflogen."

Einen Moment später wirft Jannik den Kopf in den Nacken und lässt wunderschönes Lachen erklingen. Es ist wie seine Stimme, glatt und arglos, aber es versetzt meinen Körper in Schwingung. Langsam hebt er den Kopf wieder in die Verlängerung seiner Wirbelsäule, lässt mich Tränen erkennen, die sich zwischen den freundlichen Fältchen in seinen Augenwinkeln festklammern. Sein Grübchen ist wieder da, ganz deutlich jetzt. Als er die Augen öffnet, verstummt er kurz, als bliebe ihm die Luft weg. Er betrachtet mein Gesicht, das noch immer still hält, und prustet erneut los.

Er hält sich den Bauch, kommt zu Atem. "Wie hast du das gemacht, so zu klingen, als meintest du das ernst?", staunt er, noch immer schwingt ein Lachen im Klang seiner Stimme mit. Auch auf mein Gesicht stieht sich nun ein Schmunzeln. "Bis es weggeflogen ist, war ich selber überzeugt davon.", gebe ich zu.

Jannik lacht noch einmal auf, widmet sich dann wieder meiner Betrachtung. Mir fällt auf, dass ich fast nichts über ihn weiß, außer dass er Mos bester Freund ist, dieser bei ihm und seinen Eltern wohnt, er vermutlich bisexuell ist und wechselnde Partner hat. Sonderbar, dass ich der Meinung bin, dass er gar nicht danach aussieht. Sieht man sowas jemandem etwa an?

Einvernehmlich sind wir in schweigende gegenseitige Musterungen vertieft. Ich spüre seinen Blick noch immer deutlich auf mir. Immer wieder auf meinem Gesicht, aber auch auf meinen Schultern, meinen Händen, meiner Brust. Auch ich betrachte die Details, die das Foto nicht hergab. Das Filigrane seines Gesichts, das ich zu erkennen geglaubt habe, rührt zu großen Teilen von seiner schmalen Nase her, die auf mich wirkt, als könne man sie mit Leichtigkeit geometrisch beschreiben. Der kleine Schwung der Spitze hat etwas Niedliches, Vorsichtiges an sich. Auch seine Lippen sind schmal und akkurat, wie gezeichnet. Die Brauen wechseln ihre Wuchsrichtung an der richtigen Stelle, um aufmerksam und bedacht zu wirken, und seine Augen sind von schön geschwungenen Wimpern umrahmt. Mein Blick wandert herab zu seinen Händen: Schlanke, lange Finger, sauber gefeilte Nägel. Genau, wie ich sie mir vorgestellt habe. An Mo. Bevor ich das Bild gesehen habe. Und auch die Zeichnung auf seinem Unterarm rückt in mein Blickfeld.

Ich durchbreche den Moment, als ich meine Finger tastend an die bemalte Haut gleiten lasse, sodass er sein Gewicht verlagert und den Arm anheben kann. Ein Segelboot. Die Konturen eines Segelbootes mit angedeuteten Schatten, vom Wind geblähte Segel, stürmischer Wellengang. Sonst nichts.

Mein fragender Blick versucht, ihm eine Antwort zu entlocken, als mein Daumen noch wie von selbst über das Bild und die dunkel behaarte Außenseite seines Unterarms streicht. Aber Jannik lächelt nur. Seinen Wunsch, mir diese Frage nicht zu beantworten, schwer aushaltend, stelle ich eine andere.

"Gibt es noch mehr?"

Second Sight - Verliebt in eine PhantasieWhere stories live. Discover now