Links

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Es tut mir so, so, so, so leid!

Was tut ihm denn leid? Bin ich nicht an der Reihe, das zu sagen?

Das war der denkbar schlechteste Zeitpunkt, um in der Versenkung  zu verschwinden. Ich hatte  dieses Seminar fürs FSJ in der Pampa und sie  haben behauptet, es gäbe  W-Lan in der Jugendherberge. Rate mal: gab es nicht. Ich wollte dir von dort aus antworten, aber ich habe erst jetzt wieder Netz.

Ich will nicht, dass  du denkst, ich wollte dir ausweichen. Hätte ich vermutlich getan, hätte  ich gleich antworten können. Du  verunsicherst mich. Wir hätten uns  gleich so treffen sollen, ohne Foto.

Und du wartest das ganze Wochenende darauf, dass ich dir gestehe, welcher ich bin.

Ist das anmaßend, anzunehmen, du hättest das ganze Wochenendeüber nichts anderes getan?

Ich bin erleichtert. Erleichtert, dass er nicht böse ist, verblüfft, dass er sich selbst an  irgendetwas die Schuld gibt, amüsiert über die  einzeln nacheinander eintrudelnden Nachrichten. Als hätte er das ganze Wochenende über die Luft angehalten und müsse nun alles in einem Schwall wieder loswerden.

Ich habe tatsächlich nichts anderes  getan, als darauf zu warten. Ich dachte, ich hätte dich  verschreckt. Mit dem dummen Spruch über das Foto an der Wand. Oder damit, dass ich  vielleicht deinen besten Freund hübscher finde als  dich.

Ich schlage mir die Hand  vor den Kopf. Wieso so direkt, Jonathan?  Wieso? Willst du ihn gleich  wieder in die Flucht schlagen? Gleichzeitig  kribbelt es heftig in  meinem Bauch, vor Neugier auf seine Antwort. Meine  Finger beben über  dem Bildschirm, können es nicht noch länger abwarten.

Ich habe dir nichtmal gesagt, dass der andere Jannik ist. Aber wenn du das schon ahnst,  vielleicht liegst du dann ja wirklich richtig  und findest, wieso auch  immer, mich hübscher. Ich habe Angst, Jonathan. Ich will nicht, dass du  mir sagst, wir können Freunde bleiben.

Ich erinnere mich an  meine flapsige Bemerkung, im Zuge der Aufforderung, mir ein Foto von  sich zu schicken, bevor wir einander von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten. Dass er zwar meine mimische Reaktion nicht sehen könnte, aber schon Bescheid wisse, wenn ich ihm das antworten würde. Praktisch, dass mir meine eigenen Worte jetzt in den  Rücken fallen und ihn noch unsicherer werden lassen.

Mo, es ist alles gut, okay? Ich verspreche dir, ich sage dir nicht, wir können Freunde  bleiben. Ich möchte dich treffen, so oder so. Egal, welcher von beiden du bist. Trotzdem will ich es wissen, du hast mich ganz schön  hingehalten.

Ich habe dummerweise angemerkt, dass einer von euch beiden mir optisch besser gefällt, aber das heißt nicht, dass ich andersherum enttäuscht wäre.

Mich beschleicht das Gefühl, ich würde ihn anlügen.

Ich mag dich, Mo. Genau so, wie du hier bist. Und wenn wir uns begegnen, wird es anders  sein, aber du bist immernoch du und egal, in welchem Körper, werde ich dich sicher  immernoch mögen.

Was hältst du von einer neuen Abmachung?  Du verrätst mir, welcher von beiden du bist, und ich antworte dir, was ich für ein ungeheures Glück habe. Okay?

Ich warte gespannt, mein Herz geht in die Startlöcher für die kommende Verausgabung.

Links, schreibt er und ich spüre das Herz in meiner Brust  ungelenk stolpern. Es hat den  Pfiff nicht gehört, schlingert, bevor es  wieder auf die Bahn gerät.  Ich nehme das ausgedruckte Bild zur Hand, das ich erst vor ein paar Stunden beschämt von der Duschwand gelöst habe, klappe den rechten Teil zurück nach vorne um und streiche wie schon mehrfach zuvor mit dem Daumen über das Gesicht des linken Mannes.

Erleichterung macht sich in mir breit und mit einem irren Strahlen im  Gesicht, das sich  sogleich schmerzhaft in der Muskulatur meiner Wangen  bemerkbar macht,  tippe ich bereits meine versprochene Antwort. Mo ist der Linke. Mo ist der Dunkelhaarige. Er ist der Hübschere. Ich kann es kaum glauben. Habe  ich doch seit meiner ersten Überzeugung, er müsse es sein, fast durchgehend daran gezweifelt. Ich kann nicht glauben, was für ein  ungeheures Glück ich habe.

Dann kommt mir ein Gedanke. Kurz vor der Zielgeraden bringt ein Hindernis mein Herz erneut zum Stolpern. Es pocht hektisch, versucht, darum herum zu manövrieren. 

Links in der Erinnerung oder Links im Bild?

Bei seiner Antwort kullert mir eine Träne über die Wange. Ich tippe die Worte ein und schicke sie ab.

Ich kann nicht glauben, was für ein ungeheures Glück ich habe.

Second Sight - Verliebt in eine PhantasieWhere stories live. Discover now