Borretsch

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Irgendwie geht es schnell, mich an Jannik zu  gewöhnen. Ich fühle mich wohl inmitten der  Blüten, die der kühlen Luft einen feinen Duft verleihen. Noch ein paarWochen, denke ich, und es riecht üppig. Ein paar Tage später und  man mag die Luft anhalten, wenn man daran vorbeigeht. Aber wir haben den richtigen Moment erwischt.

Ich schnuppere in den leichten Wind, beuge eine der gelben Blüten zu  mir herüber, die mir  bereits zuvor aufgefallen sind, doch sie sendet  keinen Geruch aus. Jannik scheint mich zu mustern, pflückt ein Gänseblümchen und hält es mir unter die Nase. "Sie sind unscheinbar, aber der Duft  ist verblüffend." Ich schließe lächelnd die Augen. "Stimmt. Ich habe bis  eben nicht gewusst, dass sie nach etwas  riechen."  Jannik lacht, er lässt die Blume sinken.

Ich mag den Geruch von Frühling, doch nach  und nach macht sich auch das altbekannte Kribbeln in meiner Nase bereit. Habe ich  Taschentücher eingesteckt? Was für eine Frage, in dieser Jahreszeit gehören sie zur  Grundausrüstung, wenn ich das Haus verlasse.

Jannik verändert seine Haltung, lehnt sich vor und stütz die Arme nun seitlich ab, eine Locke fällt ihm ins Gesicht. Amüsiert pflücke ich die  violette Blüte aus seinem Haar, die sich dort  verfangen hat, halte sie ihm hin. "Du hättest dich doch für mich nicht hübsch machen  brauchen." Seine Lippen kräuseln sich, er senkt den Blick auf die kleine fünfblättrige  Blüte mit den dicht gedrängten Staubblättern in der Mitte und nimmt sie mir vorsichtig aus der Hand. Die Blütenblätter zeigen einen  leichten Farbverlauf, ich kann mich im Licht der Sonne nicht entscheiden, ob sie ein wenig rosa sind oder doch eher blau. "Borretsch.", sagt er. "Was für ein hässlicher Name für  sowas Schönes."  Seine Begeisterung amüsiert mich. "Duftet es auch?",  frage ich und beuge  mich zeitgleich vor, um meine Nase der Pflanze in seiner Hand näher zu bringen. Doch ich rieche nur Jannik.

"Hmm.", summe ich. "Wie weit bist du gekommen? So um die vier Kilometer?" Er  lacht und schubst mich an der Schulter von sich. Dann zupft er eins der bläulichen Blätter von dem Kraut ab und hält es mir vor den Mund. "Probier mal."

Irritiert blicke ich ihn an. Er will, dass ich eine  Blume esse, die hier mitten auf der Wiese  wächst? Auf die vielleicht ein Fuchs seine   Blase entleert hat? Der Tollwut hatte? Als ich nicht reagiere, nimmt er das kleine Blättchen  stattdessen selbst zwischen die Lippen und   schmunzelt mich an. "Du solltest welchen sammeln. In Teilen von Italien füllen sie Ravioli damit. Schmeckt bestimmt interessant."

Seine Augen funkeln, obwohl sie fast die gleiche Farbe haben wie seine Locken, kommt es mir kurz vor, als haben sie sich in die Farbe  der Blume gekleidet, die er eben gekostet hat. "Woher weiß ein Neunzehnjähriger sowas?",  frage ich nach. Nicht vorwurfsvoll, lediglich   voller Neugier. Er zuckt die Schultern. "Ich mag Pflanzen.", sagt er.

"Du wirkst gar nicht wie ein Stecher.", platzt es irgendwann aus  mir heraus. Wir hocken so  nebeneinander in der Wiese und schweigen,  bis ich es nicht mehr aushalte. Jannik lacht. Schon wieder ist da dieses herrliche Grübchen, das ich einfach anstarren muss.

Das ist nicht fair, fällt mir ein. Das ist doch nicht gerecht, dass ich diesem Test   unterzogen werde. Ich hätte nicht von mir gedacht, derartig oberflächlich zu sein, und den Jungen, Mo, den ich charakterlich so gern habe (soweit man das aus bloßen Textnachrichten   sagen kann) gedanklich direkt durch seinen besten Freund ersetze, bloß weil er so schön ist. Dabei kommt es mir noch nicht einmal vor, als würde ich ihn ersetzen, schließlich gehörte dieses Bild für mich zu dem Charakter dazu, irrtümlich, ehe der es aufgeklärt hat. Für mich  fühlt es sich fast ein wenig an, als wäre dieser hier der Mann, mit dem ich mich so lange ausgetauscht habe. Wie gut ich doch darin bin,  meinen eigenen Verstand zu täuschen.

"Ein Stecher? Wo hast du das denn  aufgeschnappt?" In seinen Augen sitzt der Schalk, er weiß genau, wovon ich rede. Und für einen kurzen Moment kann ich es mir doch vorstellen. Vermutlich gehört so einiges dazu, regelmäßig neue Leute für sich zu gewinnen. Das hier zum Beispiel: das freche Blitzen in seinen Augen, die offene Haltung, das  Bisschen Angeberei über Pflanzenkunde. Da  reicht es sicher nicht, nur gut auszusehen. Und  doch gibt er mir nicht das Gefühl, irgendjemand zu sein, oder dass er das ständig mache. Er ist wirklich gut und ich bin doch  leichter darauf hereingefallen als gedacht. Vielleicht aber auch, weil ich noch immer ein bisschen Mo in ihm sehe, dem sowas im  Traum nicht einfallen würde.

Ich grinse zurück, ein wenig verhaltener, nun, da ich ihn ertappt habe. "Ich hab' da so meine Quellen.", deute ich an. Und frage mich, was  Moritz wohl gerade macht.

Als ich zum ersten Mal niese, schlägt er sich die  Hand vor die Stirn. "Oh Mann, das hab' ich  völlig vergessen. Lass uns aufstehen, ja?"  Verwundert über seinen Gedankensprung lasse ich meine Augen nachfragen, was er meint. Er  greift nach einem langen grünen Halm und  lässt ihn hin und her wackeln. "Deine Allergie.", erklärt er. Weiterhin verwundert  nicke ich, stemme mich hoch und blicke zu ihm   herunter, wie er noch immer etwas hilflos da sitzt.

"Wie hast du  dir das eigentlich vorgestellt mit deinem Fuß? Kurze Pause und du kannst  weiterlaufen?", mache ich mich lustig. Er blinzelt gegen die Sonne an, die mir in den Rücken scheint, hebt dann eine Hand vor die  Augen, wie um mich besser zu erkennen. "So ungefähr, ja. Hilfst du mir trotzdem?"

"Welche Seite ist es?" Ich will mich auf der verletzten  Seite positionieren, um ihn stützen  zu können. Er schaut herüber zu seinen   Füßen und blickt mir nicht in die Augen, als er antwortet. "Links."

Ich atme tief durch und gehe auf seiner Linken seite in  die Hocke. Er schlingt seinen Arm um  meine Schultern, zieht das rechte Bein an, um  sich darauf empor zu drücken und wir erheben uns mit vereinten Kräften in die Senkrechte.  Mit zusammengepressten Lippen verschluckt  er einen Schmerzenslaut. "Nicht so schlimm, ja?", erinnere ich ihn neckend. "Wohin musst du? Soll ich jemanden anrufen, der dich  fährt?"

Jannik schüttelt den Kopf. "Ist nicht weit von hier. Kennst du die Siedlung mit den Baumnamenstraßen? Ich wohne im Lärchenweg."

Ich lache. Das kann nicht sein, oder?

"Im Lärchenweg.", wiederhole ich verblüfft. "Da bin ich groß geworden. Nummer 47."

Er wendet mir im Gehen -  wir humpeln mehr, als zu gehen - sein Gesicht zu, doch ich  konzentriere mich auf den von oberflächlich   wachsenden Wurzeln durchzogenen Waldboden. "Und ich wohne in der 43. Wie  kann das denn sein?"

"Wir sind umgezogen, als ich zehn war. Meine Mutter wollte einen Raum  für ihre Therapien im Haus haben. Da müsstet ihr beide so etwa  sechs gewesen sein."

Jannik nickt langsam. Ist er besorgt über die plötzliche Nähe unserer vergangenen  Selbstversionen? Erinnert er sich an etwas, das  mir noch verborgen bleibt? "Ich bin ein Jahr jünger.", murmelt er.

"Also ist Moritz der ältere, aber der schüchternere." Jannik lacht, klingt dabei ein wenig abwesend, nicht wie eben noch auf der  Lichtung.  "Also wenn du den Eindruck haben solltest, ich sei über die  Maßen extrovertiert, dann liegt das an seiner verzerrten Sichtweise.  Für Moritz ist ungefähr jeder andere Mensch über die Maßen extrovertiert." Ich schmunzele vor mich hin, denn das kann ich mir  vorstellen.

"Schüchtern wirkst du aber auch nicht gerade.", merke ich an und beobachte aus dem   Augenwinkel, wie er sich auf die Lippe beißt. "Dann kriege ich das ja ganz gut überspielt."

Und dann stehen wir mit einem Mal in der  Straße, in der ich als Kind mit Kreide den Bordstein verschönert habe. Ob Jannik irgendwann einmal dabei mitgeholfen hat?  Moritz ist zu der Zeit unseres Auszugs  immerhin erst zu ihnen gekommen. Aber vielleicht gibt es ja doch eine uralte,  verborgene Erinnerung an den schönen  Dunkelhaarigen als Kind.

Wir bleiben vor der Nummer 43 stehen, ich  schiele zwei Häuser weiter zu der roten  Backsteinfassade, dem kleinen Schrägdach über der  Haustür mit dem rautenförmigen Fenster. Da wächst noch immer die hellrosa  Hortensie an der Hauswand. Ist es wirklich die  gleiche wie  damals, die Thorsten gepflanzt hat, als er bei uns einzog? Verrückt, stelle ich  fest,  dass Moritz und mich nur ein Haus getrennt  hat, und ein klitzekleines zeitliches Hindernis.

"Danke für deine Hilfe.", murmelt Jannik und will den Arm von meiner Schulter nehmen,   doch ich packe seine Hand und halte ihn an Ort und Stelle. "Den letzten Rest zur Tür willst du hüpfen, oder wie?", scherze ich. "Jetzt bringe ich dich auch noch den Rest des Weges." Ich  bugsiere ihn soweit, dass er den Knauf umfassen kann. Nun ersetzt frische   Frühlingsluft den warmen Kontakt seines Armes an meinem oberen Rücken und er wendet sich mir zu, sodass wir viel zu nah aneinander stehen. "Danke.", sagt er nochmal, sein Blick auf meinem Gesicht, aber nicht in  meine Augen gerichtet. Ist er jetzt verlegen?

"Ist es in Ordnung, wenn ich es ihm sage?" Jannik runzelt die Stirn. "Dass wir uns begegnet sind, bevor ich ihn getroffen habe. Ich  will nicht, dass ihn das verunsichert."  Verstehen erhellt sein Gesicht, doch seine Augen leuchten nicht mit. "Ach, Moritz meinst  du.", stellt er fest, als hätte er den Freund  tatsächlich bis eben vergessen. Dann nickt er.  "Ich sage ihm nichts, solange er nicht fragt.", verspricht er.

Second Sight - Verliebt in eine PhantasieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt