Oben und unten.

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Dann kann man sich besser festhalten.

Noch zuhause klingt dieser Satz in meinem Kopf nach. Hat er sich etwa vorgestellt...? War das eine allgemeine Aussage? Dass er das an Menschen attraktiv findet? Oder will er sich an mir festhalten?

Nachdem er diesen Satz im Park losgelassen hat, war ich perplex. Konnte mich erst wieder fangen, als er mich erinnert hat, dass ich ihn ja auch etwas fragen wollte. Noch leicht verwirrt habe ich getan, als hätte ich vergessen, was ich wissen wollte. Ich wollte einfach in dem Moment keine Frage über Moritz stellen.

Er hat mich nach Hause gebracht, obwohl der Weg zu mir viel weiter ist als zu ihm und er sicherlich noch eine gute Stunde zu Fuß braucht, von meiner Wohnung aus. Aber das hat er sich nicht nehmen lassen. Wieder muss ich daran denken, wie gewieft er ist. Er mimt den Gentleman, der auf mich Acht geben will, hinterlässt aber gleichzeitig diesen Gedanken in meinem Kopf. Dass er sich dann besser festhalten könnte.

Emilias unerhörte Frage beim Pizzabacken fällt mir wieder ein. Ob man als bisexueller Mann nicht dazu neigen würde, beim Sex mit Männern auch die zu dominieren. Aber er hat nicht davon gesprochen, besser zupacken, sondern sich besser festhalten zu können. Wortklauberei, Goldwaage, ich weiß. Aber dennoch erzeugt der Wortlaut ein unmissverständliches Bild. Ein Bild von Jannik auf meinem Bett, die Hände in meine Arme gekrallt, in meinen Rücken, meine Seiten, irgendwo, wo er mich zu fassen kriegt. Unter mir.

Ich wische mir mit der flachen Hand über mein Gesicht und versuche, ruhig zu atmen. Das muss aufhören. Dringend. Ich kann nicht immer wieder an Jannik denken, wenn ich Moritz meine. Wenn ich Moritz meinen sollte. Ich will nicht so oberflächlich sein, denn Sandra hat ja Recht. Es ist nur sein Körper, der mich in Versuchung führt. Oder? Er scheint aufmerksam und liebevoll zu sein, mir gegenüber, selbst wenn das nur seine Strategie ist, aber ich weiß doch auch, wie er bei Moritz ist. Und diesen Teil an ihm finde ich ganz und gar nicht liebenswert. Wieso also gerate ich schon wieder zwischen die Fronten? Wie wichtig kann so ein Körper schon sein?


Es ist Samstagabend und ich habe mich noch nicht getraut, mich wieder bei Moritz zu melden. Er sich allerdings umgekehrt auch nicht. Ich bin reichlich frustriert, und bereits überfordert mit diesen zwei Männern, dennoch finde ich mich plötzlich in der App wieder und lese eine lange übersehene Nachricht von einem gewissen Typen mit Hang zum Masochismus.

Schlitzohr37:
Ich will ganz ehrlich zu dir sein, Hugo. Ich nutze die App hier schon eine Weile, weil ich nicht erkannt werden will. Aber es ist ein ziemlicher Reinfall, Typen zum Daten zu suchen, ohne ihr Gesicht zu sehen. Also wenn du mutig bist, schick mir ein Foto von dir, ich schicke dir eins zurück.

Unter der Nachricht eine zwölfstellige Zahlenfolge. Überrascht lese ich die Worte nochmal. Er hat ja Recht, die Sache mit den fehlenden Fotos war von vornherein blödsinnig.

Obwohl seine Nachricht zwei Wochen alt ist, antworte ich kurz entschlossen. Er ist ehrlich gewesen, also will ich das einfach erwidern.

HugoVictor:
Dass das Konzept nicht aufgeht, wird mir auch gerade klar. Wenn du Typen zum Daten schreibst, meinst du dann Typen zum Ficken?

Ich schüttele über mich selbst den Kopf. Wieso tue ich das? Ich habe ja nicht vor, ihm ein Bild zu schicken, wie er es vorgeschlagen hat. Trotz der langen Wartezeit folgt seine Antwort prompt.

Schlitzohr37:
Ich nehme, was ich kriegen kann. Lessingstraße 15, da ist ein Pub. In einer halben Stunde. Aber nur, wenn du mir ein Bild schickst und mir gefällst.

Ehrlich und direkt ist er in der Tat. Offensichtlich nicht geoutet, sonst müsste er nicht mit der lästigen Keine-Bilder-App unerkannt bleiben, um Typen zu daten. Also kein Material für eine Beziehung. Perfekte Ablenkung von der Moritz/Jannik-Situation. Dabei habe ich sowas noch nie getan. Und es wäre mehr als unfair Moritz gegenüber, dem ich ohnehin schon genügend Unrecht tue.

In Gedanken probiere ich es einmal aus. Schreibe ihm einen eingebildeten Spruch an seine Nummer, der impliziert, dass ich mir sicher bin, dass er erscheinen wird, wenn er das Bild sieht. Vielleicht ist er nicht mein Typ, vielleicht finde ich ihn regelrecht abstoßend. Aber zumindest wäre es Sex. Nach Ewigkeiten mal wieder richtiger Sex mit mehr als meiner Hand.

Die Erinnerung an eines der letzten Male drängt sich mir auf, bleibt klebrig in meinen Gehirnwindungen haften. So wollte ich das nicht, das ist nicht der Sex, den ich mir unter Ablenkung vorstelle. Mir wird klar, dass ich seit Markus mit niemandem mehr geschlafen habe. Dass ich mir nie wieder Gedanken darüber gemacht habe, was ich eigentlich will, wie ich es mir wünsche. Dann hatte ich diese Bilder von Mo im Kopf. Von Janniks Körper eigentlich. Und habe mir zum ersten Mal heute die Frage gestellt, ob "Dann kann man sich besser festhalten" wohl bedeutet, was ich hineininterpretiere. Ich habe nicht gewusst, dass es für mich eine Rolle spielt, aber das tut es ganz plötzlich. Oder hat es vielleicht schon immer und ich habe es nur ignoriert.

Darum stelle ich dem Typen in der App die Frage, die innerhalb von Sekunden für schnellen Sex zum Ausschlusskriterium Nummer eins geworden ist.

HugoVictor:
Oben oder Unten?

Sonderbarerweise bin ich erleichtert, als er mir die falsche Antwort gibt und ich ihn bemüht höflich zurückweisen kann. Damit wäre dieser Fehler ausgebügelt, bevor er begangen wurde.

Nur die Sache mit Moritz, mit Moritz und Jannik hat sich noch nicht geklärt. Wäre es nicht viel leichter, wenn es für Jannik auch diese K.o.-Frage gäbe? Eine einfache Frage, eine klare Antwort und jede Möglichkeit, die jetzt noch als rosarote Vision durch meine Gedanken flattert, einfach ausgemerzt. Aber wie kann es diese Frage geben, wenn schon Dinge, die er ohne Zusammenhang nebenher erwähnt, mir wie ein Anhaltspunkt erscheinen, wie er sie beantworten könnte? Dann kann man sich besser festhalten.

Ein seltenes Geräusch durchbricht meine Grübelei. Unerwartet geht am Samstagabend die Türklingel. Ob etwas passiert ist? Sandra? Mama? Thorsten? Viele Leute gibt es nicht, um die ich mir Sorgen machen würde, doch meine Familie kann mich problemlos telefonisch erreichen. Emilia für einen spontanen Besuch? Nach ihrer Verwechslung im Kino hat auch sie sich nicht mehr zu mir herauf getraut. Jannik geht mir kurz durch den Kopf. Immerhin ist er dort sowieso schon damit zugange, sich aus allen Winkeln und Positionen an mir festzuhalten.

Als ich durch den Spion das verschwommene Gesicht in Augenschein nehme, poltert es kurz in meiner Brust. Ich bin überrascht. Erfreut. Verwirrt. Besorgt. Irgendetwas davon.

Second Sight - Verliebt in eine PhantasieWhere stories live. Discover now