Aus den Gedanken eines Fremden (2)

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Ob ich noch wisse, wie sie neulich auf das Amateur-Indie-Konzert im Café an der Uni gehen wollte und ich keine Zeit gehabt hätte. Sie habe da den Gitarristen angesprochen, der ihr so gefallen habe.
„Das ist schön Lea. Triffst du ihn wieder?"
Auf meine Frage hat sie gelacht und mir ein Foto hingehalten: Ein neben seiner Gitarre nicht besonders groß aussehender junger Mann mit Bürstenhaarschnitt und mehreren funkelnden Ringen an Gesicht und Ohren grinst mir entgegen. An irgendetwas hat mich sein Anblick erinnert, als ob mir mal jemand von ihm erzählt hätte. Er ist schwul, erklärt sie mir, und auf der Suche und dass sie mich erwähnt habe. Na toll. Wieso denkt sie immer, sie müsse mich verkuppeln?

"Ich bin aber nicht auf der Suche.", habe ich gesagt und einen überraschten Blick geerntet. Sie hat sofort durchschaut, wie ich das meine. Und als ich Jonathan erwähne, will sie alles wissen. Wie er aussieht, wie er so ist, woher ich ihn kenne, was schon passiert sei zwischen uns. Ich versuche, ihn irgendwie zu beschreiben, ohne die ganzen relevanten Details aufzugreifen. "Er ist geduldig und rücksichtsvoll. Er ist klug und ein ziemlicher Angeber." Ich muss grinsen. Das ist er tatsächlich, aber das stört mich kein bisschen. Ich mag sein Selbstbewusstsein und die Sicherheit, die es mir vermittelt. Ich mag, dass ich mich warm und geborgen bei ihm fühle, wie seine Hand meine fest und schützend umschließt, genau so will ich von ihm umarmt werden. "Er ist ein Familienmensch. Handwerker. Er hat einen komischen Humor, Sinn für Ästhetik, ..." Lea hat mich irgendwann unterbrochen und mich ausgelacht. "Gut, und wie sieht er aus?"

Da ist mir aufgefallen, dass ich kein Bild von ihm habe. Lea hat eins von dem schwulen Gitarristen von neulich Nacht, der ihr sogar einen Korb gegeben hat, aber ich habe keines von Jonathan. Also habe ich mein Handy gezückt und ihm geschrieben, ihn um eines gebeten. Immerhin habe ich ihn schon von Angesicht zu Angesicht vor mir gehabt. Als postwendend mein Handy drei neue Nachrichten verlautbart, muss ich erst schmunzeln, dann schlucken. Das Foto, das mir entgegen leuchtet, zeigt sein wunderschönes Gesicht: Mir fällt auf, wie er sich auf die Unterlippe beißt und seine Augen herausfordernd funkeln. Der Körper darunter, bis knapp unterhalb der Hüftknochen im Bild, ist nackt. Ich starre auf ausgeprägte Brustmuskeln, einen starken Bauch mit perfekt geformtem Nabel, den Schattenwurf weiter unten, der von oberhalb beider Hüftknochen zur Mitte hin zusammenläuft. Lea hat das Bild nicht gesehen, betrachtet bloß meine Reaktion, die ich möglichst neutral zu halten versuche. Ich muss mich räuspern.

Unter dem Bild sind zwei Nachrichten:

Viel Spaß damit ;)

Oder lässt du mich teilhaben? :)

Ich verschlucke mich an meinem Speichel und huste unkontrolliert, Lea klopft mir rettend auf den Rücken und mustert mich misstrauisch.

Ich erkläre Jonathan, dass ich Lea zeigen will, wie er aussieht, und dass er sich den Gedanken für später aufheben soll. Wenn es so einfach ist, dass er mir ein Bild von seinem nackten Oberkörper schickt, wieso habe ich nicht früher gefragt? Und... Was würde er mir wohl noch schicken, ohne dass es große Überredungskunst erfordert?

Lea betrachtet das neue Bild - angekleidet - und klopft mir anerkennend auf die Schulter. "Nicht mein Typ, aber er sieht unbestreitbar gut aus."

"Nicht dein Typ?" Ich kann nicht glauben, dass das irgendjemandem mit Jonathan so gehen könnte, der sich für Männer interessiert. "Was stimmt denn bitte nicht mit ihm?" Fast bin ich in dem Moment ein bisschen beleidigt.

"Hm, der Körperbau zum Beispiel. Ich mag größere Männer, ein bisschen dratiger, nicht ganz so muskelbepackt." Ich betrachte erneut das Foto von zuvor, ohne dass Lea den Bildschirm einsehen kann. Diese Arme... Als ausgeprägt muskelbepackt würde ich ihn nicht bezeichen. Er sieht trainiert aus und stark und... "Ich stelle mir vor, wie er mich packt und gegen eine Wand drückt." Wieso sage ich ihr das? Sie seufzt, als ob ich etwas Romantisches gesagt hätte, dabei kam es mir wie das Gegenteil vor.

"Naja und sein Gesicht ist so kantig, ich mag weichere Linien.", erklärt sie wieder. "Und ich steh' nicht auf blond, ich mag lieber dunkelhaarige Männer." Ein Bild formt sich in meinem Kopf und ich mustere Lea skeptisch. Sag es nicht, geht mir durch den Kopf, als sie es schon ausspricht. "Mit Locken." Großartig.

"Du stehst auf Männer, die aussehen wie..." Sie unterbricht mich und boxt mir freundschaftlich auf den Arm. "Sei bloß still!", lacht sie.

In dem Augenblick erinnere ich mich gut an eine Situation kurz nach unserem Kennenlernen. Wie wir im Schulflur stehen, Kira und Lea flankieren mich. Jannik kommt auf uns zu, zieht eine Brotdose heraus und reicht sie mir rüber. "Mama hat mir dein vegetarisches Zeug eingepackt. Tauschen wir?" Und als er mit seinem Salamibrot wieder geht, kichert Kira und Lea raunt mir ins Ohr: "Oh mein Gott, Jannik ist dein Bruder?"

"Dann ist das also Zufall, dass du deinen Traummann so beschreibst?" Sie schüttelt noch immer lachend den Kopf, lehnt sich seitlich gegen mich und legt den Kopf auf meiner Schulter ab. "Ach, Mo, es ist ja nicht so, als wäre ich schon seit der fünften Klasse in dich verliebt." Als ich sie von mir weghalte, um ihr nach dieser Behauptung ins überaus ernst schauende Gesicht zu sehen, glaube ich ihr für einen Moment. Schon rasen meine Gedanken: Was ich getan habe, um sie dazu zu veranlassen; wie das sein kann, wo sie doch Jannik schon damals so toll fand; dass sie tatsächlich nie eine länger andauernde Beziehung hatte; wie ich mich jetzt verhalten muss. Aber dann prustet sie zu meiner Erleichterung los und auch ich stimme ein.

"Also, wann lerne ich deinen Schatz kennen?" Bei ihrer Frage werde ich sofort wieder ernst. So glücklich mich der Gedanke an Jonathan macht, so sehr bedrückt er mich im nächsten Moment, wenn ich daran denke, dass ich alles kaputt gemacht habe, noch bevor es begonnen hat.

"Wir sind nicht zusammen." Lea versucht, die Situation zu sondieren. "Ihr habt euch virtuell kennengelernt, aber ihr seid euch schon begegnet. Ihr schickt euch unanständige Sachen hin und her. Ich denke, das geht in die richtige Richtung." Erschrocken bemerke ich, wie ich rot werde. "Du hast das Bild gesehen?" "Ich hab gesehen, wie du das Handy angestarrt hast. Aber es gibt ein Bild? Zeig' her!" "Ganz bestimmt nicht!" "Ach, komm schon! Ich bin ausgehungert!" "Mensch, Mädel, dann geh ins Internet, aber lass Jonathan da raus." Sie kichert, ein Geräusch, das mir sehr vertraut ist. "Du bist ganz schön verliebt."

Traurig muss ich ihr zustimmen. Es ist das erste Mal so heftig, so "leicht besessen", wie Jannik bemerkt hat. Und gleich ist es ausweglos. Aber trotzdem ist es ein wunderschönes Gefühl, das ich festhalten will.

"Habt ihr euch geküsst?" Ich nicke vorsichtig. "Und?" "Es war schön..." Mein Gesicht fühlt sich heiß an, vermutlich feuerrot, aber es muss einfach raus. Irgendwem muss ich davon berichten.

"Also wenn ihr nicht zusammen seid, weiß ich auch nicht!", verkündet Lea. Aber ich schüttele weiter vehement den Kopf. Sie kennt nicht die ganze Geschichte. Sie weiß noch nichts vom Kern des Problems. "Sind wir nicht. Ich habe ihn angelogen."

Sie schaut mich mitleidig an und streichelt über meinen Arm, als ob ich hier das Opfer wäre. Der Leidtragende, das ja, aber immerhin auch der Schuldige. "Inwiefern angelogen?", will sie wissen. Ich schlucke, kann ihr beim folgenden Geständnis nicht in die Augen schauen.

"Wegen Jannik."

Second Sight - Verliebt in eine PhantasieWhere stories live. Discover now