Second Sight - Verliebt in eine Phantasie

Foto

Moritz  ist wunderschön. Ich kann nicht richtig sagen, wie, aber er kommt  meiner Vorstellung schon sehr nahe. Er ist drahtig gebaut, wie ein  Läufer eben, schokoladenbraune Locken fallen  ihm in die Stirn. Seine Gesichtszüge wirken in der Ferne filigran, erhaben. Er steht lachend da,  der Arm eines anderen Jungen um seine Schultern gelegt, der ebenfalls in die Kamera strahlt. Jannik, vermute  ich. Sein eigenes Lachen nicht  ganz so breit, fast meine ich, ein wenig Sorge um seine Augen herum zu  erkennen. Oder liegt das wieder nur daran, dass ich ihn so kennengelernt  habe? Dass ich schon davon  ausgehe, dass er unsicher und sorgenvoll  sein muss? Denn seine Haltung  ist aufrecht, dem anderen ebenbürtig. Er  muss sich wohlgefühlt haben in dem Moment. Wer wohl das Foto gemacht hat? Ein Freund? Janniks Eltern?

Den  anderen unterziehe ich nur einer kurzen Musterung. Er ist blond, definitiv nicht hässlich, und ich kann mir gut vorstellen, dass das zu ihm passt, was Moritz gesagt hat. Dass er ständig jemand neuen mit nach Hause nimmt. Dennoch erscheint er in meinen Augen langweilig gegen Moritz. Oder liegt auch das nur daran, dass ich ihn kenne, dass ich ihn ohnehin interessant finde?

Ich war wirklich überzeugt davon, in dieser App nur auf  Fremdgänger und eher durchschnittlich aussehende Männer zu treffen, die  fürchten, in einem Portal mit Profilfotos niemanden zu finden. Aber dann das! Bist das wirklich du? Du siehst  fantastisch aus. Ich kann es nicht  abwarten, dich in echt zu sehen. Ich glaube, ich drucke das Foto aus, knicke es in der Mitte um und klebe es an die Wand neben meinem Bett.

Erschrocken starre ich auf  die eben gesendete Nachricht. Was ist bloß  los mit mir? Er ist schon  unsicher genug, musste der letzte Satz wirklich sein? Ich erinnere mich, dass wir nicht länger in der App schreiben, und tippe ein paar  Worte hinterher.

Mist, tut mir leid! Ich klebe das Foto nicht an die Wand, auch wenn ich gerne wollte. Das wäre ziemlich schräg und ich will nicht, dass du mich für einen Perversen hältst. Das habe ich  immerhin einen Monat lang ganz gut verborgen ;P

Wird er mir antworten? Hat er es schon gelesen? Ich bin aufgeregter denn je und lenke mich nur mit der Betrachtung des Bildes ab. Entdecke ein neues Detail: dunkle, unscharfe Muster auf seinem Unterarm, rechts. Stimmt ja, er hatte etwas von einem Tattoo erwähnt. Allerdings von einem auf der Brust. Ich hatte keine Ahnung, dass er mehr als das eine trägt. Was es wohl für ein Motiv ist? Gibt es noch mehr an anderen Stellen?
Ich will so sehr, dass er antwortet und wir uns bald treffen können. Ich will alles über ihn erfahren. Alles, was ich noch nicht weiß. Wie er wohl riecht? Schmeckt? Klingt? Sogar zu seiner Stimme habe ich eine Assoziation im Kopf, die gut zum Bild passen würde.

Erleichtert über den Nachrichtenton lasse ich von der Betrachtung des Fotos ab -  vielleicht drucke ich es mir doch aus, er wird es ja nicht  erfahren - und lese nach, was er geantwortet hat.

Woher weißt du, welcher ich bin?

Schlagartig  wird mir heiß, dann kalt, dann wieder heiß.
Was, wenn ich falsch liege? Wenn Moritz der andere ist? Und wieso bin ich überhaupt so  überzeugt davon ausgegangen, er wäre der Dunkelhaarige?
Nun, weil er in meiner Vorstellung so aussah. Weil ich will, dass er so aussieht. Weil er scheinbar (auch wenn ich mir zuvor nie Gedanken darüber gemacht  habe und Markus definitiv ganz anders aussah) genau mein Typ ist.

Und wenn das in Wahrheit Jannik ist? Jannik, der „Stecher"? Immerhin nicht hetero, geht es mir durch den Kopf, und ich schelte mich gedanklich selbst dafür. Das kann ich doch nicht ernst meinen. Ich will Mo, den, mit dem ich mich so gut verstehe, der so viel von mir weiß und  mir nie  das Gefühl gegeben hat, nicht auszureichen. Moritz, der sich mir gegenüber geöffnet hat, trotz seiner Schüchternheit. Und wenn Moritz der Blonde ist...

Ich schüttele über mich selbst den Kopf, fassungslos. Eben noch habe  ich festgestellt, dass auch der Blonde nicht schlecht aussieht. Hätte Moritz mir ein Bild von sich einzeln geschickt und er sähe so aus, wäre ich sicher verzückt gewesen. Überrascht über die Abweichungen von meinen  Hoffnungen, aber definitiv immer noch begeistert über das Übertreffen meiner Erwartungen. Denn er sieht gut aus. Stark, etwas stämmiger als der andere - als Mo, denkt mein Kopf automatisch - sein Grinsen ein wenig überheblicher. Wie einer, der das Leben auf die leichte Schulter nimmt, mit dem man Spaß haben kann, der einen aufheitert, denke ich. Ob ich das nur denke, um mir weiter einzureden, ich würde richtig liegen?
Aber so, direkt neben dem schönen Dunkelhaarigen, wüsste ich einfach nicht, was ich tun soll, wenn er mir sagt, dass er der Blonde ist.

Woher weißt du, welcher ich bin?

Er hat recht, ich weiß es nicht. Ich habe keinerlei Anhaltspunkt. Vielleicht hat der eine den Körperbau eines Läufers, doch es ist ja nicht gesagt, dass nicht beide gerne joggen. Und die Tätowierung am Arm hat er nie erwähnt, die auf der Brust schon. Spricht das nun doch für den Blonden?

Mo, denke ich, komme mir jämmerlich vor. Finde mich am Ausgabefach meines Druckers wieder, nehme das Papier heraus und  schneide es zurecht. Betrachte erneut alle beide. Moritz und Jannik, Jannik und Moritz.
Ich falte es auf der Hälfte, drehe eines der Gesichter nach hinten.
Ich weiß, dass ich mich unmöglich verhalte. Dass das einfach nicht fair ist. Ich wollte doch nicht oberflächlich sein, wollte nach seinem Charakter urteilen, sowie ich mir das von ihm auch gewünscht habe.
Wieso habe ich das mit dem Foto vorgeschlagen? Ich hätte direkt auf ein Treffen pochen sollen. Und wieso schickt er mir ausgerechnet dieses Bild, ohne Kommentar?
Dabei ist es eigentlich sonnenklar, denn es ist Mo, egal, welcher von beiden. Er ist unsicher genug, um nicht alleine auf dem Foto sein zu wollen, das ich als erstes von ihm sehe. Ich kann es verstehen.

Mit dem bunten Ausdruck falle ich zurück auf meine Matratze im Schlafzimmer. Streiche mit dem Daumen über die Pixel, die sein Gesicht zeichnen. „Mo", flüstere ich. Und ärgere mich selbst, dass ich es mir so sehr wünsche. Es ist doch bloß ein Körper, oder?

Woher weißt du, welcher ich bin?

Ich atme tief durch.

Ich bin ganz automatisch davon ausgegangen, dass du der Hübschere bist.

Den restlichen Abend über erhalte ich keine Antwort. Auch nicht am Freitag, am Samstag oder am Sonntag. Mit einem einzigen Satz habe ich alles zerstört.