Meilenweit

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Du hast dir eine Borretsch-Blüte auf den Fuß tätowieren lassen?

Ich hätte die Nummer löschen sollen, als ich noch wütend genug dazu war, doch jetzt bin ich nur noch enttäuscht und verwirrt. Vielleicht enttäuscht genug, um mich an irrsinnigen Hoffnungen festzuklammern, wie dem Klang der drei geflüsterten Worte aus seinem Mund, vor knapp einer Woche. Doch nun bin tatsächlich ich es, der ihm eine Nachricht schickt. Als wäre ihm längst verziehen. Als wäre es überhaupt verzeihbar.

Ich kann sehen, dass Jannik-Moritz die Nachricht liest, und starre erwartungsvoll auf den Chat, in dem sich nichts tut. Wieso sollte er auch antworten? Immerhin braucht er mich nicht mehr, hat ganz offensichtlich ein hübsches Mädchen gefunden, das es mit ihm aushält. Ob er ihr seinen richtigen Namen gesagt hat?

Orangenkakao und Budenbauen haben sich nach der Begegnung im Schwimmbad erübrigt. Sandra hat mich heim gefahren, mir durch das noch feuchte Haar gestreichelt und ein letztes Mal angeboten, mit hochzukommen. Aber ich wollte mich einfach nur in mein Bett verkriechen und das Foto anstarren, das am Fußende an der Wand hängt. Das, auf dem nur er drauf ist.

Die wirren Gedanken in meinem Kopf lassen mich nicht klarsehen, welches Gefühl mich am meisten bedrückt. Ist es wieder emporkeimende Wut? Traurigkeit? Vermissen? Auch wenn es nur um eine Figur geht, die außerhalb meines Kopfes höchstwahrscheinlich nie existiert hat. Ich vermisse Mo. Ist es Eifersucht auf das Mädchen, das jetzt an seiner Seite sein darf? Das er vielleicht nicht belügt? Oder sind es Selbstvorwürfe, mich zu schnell auf die Gefühle eingelassen und auf das Spiel der beiden Freunde hereingefallen zu sein?

Die Nachricht schicke ich ihm vermutlich aus Trotz. Es wird ihn wenig tangieren, dass ich ihn im Schwimmbad gesehen habe und er mich nicht. Aber vielleicht antwortet er und sieht sich veranlasst, es doch nocheinmal mit einer Entschuldigung zu versuchen, obwohl ich ihn im Krankenhaus gebeten habe, es sein zu lassen.

Seit er die Worte gelesen hat, ist er durchgängig online, doch das Symbol, das das Tippen einer Antwort anzeigt, will einfach nicht erscheinen.

Seufzend ziehe ich das umgefaltete Foto von unter meinem Kopfkissen hervor und halte es neben den Abzug an der Wand. Auf dem einen ist sein Gesicht von frontal zu erkennen, sein leicht zurückhaltendes Strahlen, die eleganten Züge, eine Nase, über die ich noch immer in Verzückung geraten könnte. Aber es ist auch das Bild, das mich an die ganze Verwechslung erinnert. Das war der Moment, in dem Jannik ins Spiel kam.

Ein Trick, zweifelsohne: Das Foto von ihnen beiden, mich tagelang warten lassen, ohne zu erklären, welcher Mo sei. Damit fing alles an. Mein schlechtes Gewissen ihm gegenüber, weil ich wünschte, er sei der andere.

Auf dem Bild an der Wand erkenne ich nicht viel von ihm. Aber auf dem ist er wirklich er selbst. Er weiß nicht, dass in dem Augenblick, in dem er gänzlich entspannt in der Wiese liegt, jemand vom Wegesrand aus auf den Auslöser drückt und seinen intimen Moment festhält. Er weiß nicht, dass er Wochen später in meinem Schlafzimmer hängt. Bei dem Foto ging es mir nicht um die Person darauf, sondern um das, was sie ausstrahlt. Und doch habe ich ihn genau getroffen. Ruhig, nachdenklich, naturverbunden, wunderschön. Zumindest hat er sich als "Jannik" so gegeben.

Ein wenig erschrecke ich, als mein Handy den Eingang einer Nachricht verlautbart. Hektisch will ich es von der Bettdecke aufklauben, dabei segelt der Ausdruck des ersten Bildes zu Boden. Ich ignoriere das Foto und betrachte gebannt den Chat.

Du liegst meilenweit daneben.

Ich schnaube - definitiv wütend, wird mir klar.

Dann erklär's mir doch ein für alle mal. Wie ist dein Name? War das nicht dein Fuß mit der Blüte?

Ich bin Mo. Und du hast meinen Fuß gesehen. Aber es ist kein Borretsch. Weit davon entfernt. Es ist eine Blüte vom Johanniskraut, einer Heilpflanze. Sie hat auch fünf Blätter, aber ist gelb.

Wieso hast du Johanniskraut auf deinen Fuß tätowiert? Und das Schiff?

Ein mulmiges Flattern macht sich in meinen Eingeweiden breit. Er ist Mo. Das ist die Bestätigung. Jannik ist Mo. Und Moritz ist Jannik? Eigentlich will ich ihm einen Vorwurf machen, wissen, wer das Mädchen im Schwimmbad war, aber meinen tippenden Fingern scheint die Bedeutung der Bilder auf seinem Körper wichtiger zu sein.

Das ist ziemlich persönlich.

Wow. Du erzählst es jetzt wohl lieber der kleinen Rothaarigen. Na dann.

Was meinst du?

Das Mädchen aus dem Schwimmbad heute morgen? Oder ist die auch schon wieder Geschichte?

Oh. Nein, das hast du falsch verstanden, das ist meine Schuld. Immerhin habe ich dich glauben lassen, ich sei Jannik. Das war Lea, ich habe dir mal von ihr erzählt. Eine gute Freundin, noch aus der Schulzeit. Die, der ich das Foto von dir gezeigt hatte, als ich dich gebeten habe, eins zu schicken.

Mein Herz macht einen erleichterten Hüpfer, doch erntet dafür nur eine erhobene Augenbraue seitens meines Kopfes. Na und? Dann hat er vielleicht nicht gleich den oder die Nächste abgeschleppt. Trotzdem ist es ihm zu privat, mir von der Bedeutung seiner Tattoos zu erzählen. Das war es ihm bislang nicht und das sagt doch alles.

Du musst dich nicht vor mir rechtfertigen.

Ich würde es dir aber gerne erklären, wenn du mich lässt.

Meine Hoffnung, dass er meine Wut aus den knappen Sätzen herauslesen kann, zerschlägt er mit Engelsgeduld. Es mir erklären? Was erklären? Es gibt also eine Erklärung für die ganze Geschichte? Ein Missverständnis, wie Sandra gesagt hat? Bevor ich mir zu viele Hoffnungen mache, frage ich nach.

Was gibt es denn zu erklären?

Ich habe dich angelogen. Und dafür gibt es eine Erklärung. Sie ist vielleicht schwach und reicht dir lange nicht aus, um mir zu vergeben, aber ich würde mir wünschen, dass du sie dir anhörst.

Was spielt es für dich für eine Rolle, ob ich deine Gründe kenne? Sind die dir etwa nicht zu persönlich?

Jonathan...

Was? Darf ich nicht sauer sein?

Doch, das habe ich verdient. Ich meine nur... Ich habe mit niemandem darüber gesprochen, was das Johanniskraut oder das Schiff bedeuten. Ich fände es sehr schön, es dir anzuvertrauen. Aber nachdem ich dich belogen habe und du wütend auf mich bist, würde ich mich unwohl damit fühlen, es dir zu erklären und dich dann nicht wiederzusehen.

Gut. Dann erklär mir eben, wieso du mich angelogen hast.

Danke. Dass du mir die Chance gibst.

Leg einfach los.

Jetzt? Willst du dich vielleicht im Wald treffen? An der Lichtung?

Mein Blick wird erneut von dem Bild an der Wand gefangen genommen. Die Lichtung. Die bläuliche Blüte in seinem Haar. Die mit meinem Finger nachgezeichneten Konturen des Segelschiffes auf seinem Arm.
Er will es mir von Angesicht zu Angesicht erklären? An dem Ort, an dem wir uns zum ersten Mal begegnet sind?

Second Sight - Verliebt in eine PhantasieWhere stories live. Discover now