Zwei Hände

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"Was hast du dann gemacht?"

Kopfschüttelnd bedenke ich Sandra mit einem strafenden Blick. Ist das ihr Ernst?

"Ich habe es ignoriert." "Du hast ignoriert, dass er dir seine Liebe gestanden hat?" Ich nicke, habe keine Geduld, um es zu wiederholen oder zu erklären. Meine Reaktion ist nicht das Problem, das ich mit ihr zu diskutieren hergekommen bin.

"Und stattdessen?" Ich seufze auf, zucke die Schultern. "Ich bin duschen gegangen.", erinnere ich mich. "Nein, warte. Er hat mich gebeten, ihm eine Unterhose zuzuwerfen. Aus seinem Kleiderschrank. Überraschung, die Schublade hat wirklich gequietscht."

Sandra lacht auf, wirft den Kopf in den Nacken und gackert was das Zeug hält. Wenn sie so lacht, klingt sie wie eine Disney-Hexe, nachdem sie die Umsetzung ihres großen bösen Plans in die Wege geleitet hat, und es dauert immer ein paar Momente, bis sie sich beruhigt. Ich atme tief durch und warte ab. Noch immer glucksend klopft sie mir auf die Schulter.

"Okay. Du lernst also einen tollen Typen in einer App kennen. Er schickt dir ein Foto von sich und seinem besten Freund und lässt dich drei Tage lang im Unklaren, welcher er ist. Du verguckst dich in seinen besten Freund und hoffst, dass er es ist."

Ich verdrehe die Augen über ihren Versuch einer Zusammenfassung. "Der Punkt ist, dass ich durch seine Nachrichten wirklich das Gefühl gekriegt habe, wir wären auf einer Wellenlänge. Aber Moritz ist ganz anders, wenn er vor mir steht, und ich fühle einfach nichts. Und wenn ich mit Jannik zusammen bin, dann ist die Luft elektrisch aufgeladen, ich will ihn ansehen und ihn berühren. Aber über Jannik weiß ich ein paar Dinge, die ihn mir eigentlich unsympathisch machen müssten. Nur zu mir ist er ganz anders."

Sandra schüttelt den Kopf, wehrt damit meine Entweder-Oder-Argumentation ab. "Ich sehe ja ein, dass dieser Moritz einfach nicht der Richtige ist. Du kannst keine Beziehung auf Chatnachrichten aufbauen, wenn der Rest nicht stimmt. Aber bei Jannik verstehe ich dein Problem nicht. Er ist nett zu dir, du fühlst dich gut mit ihm. Was spielt das für eine Rolle, was Moritz über ihn gesagt hat? Vielleicht ist es ja nicht mal wahr." Moritz soll gelogen haben? Ausgeschlossen. Zu welchem Zweck sollte er mir diese Dinge über Jannik erzählt haben, ehe ich ihm überhaupt begegnet bin? Aber ich spüre auch, wie ich ihr Recht geben will: Es ist mir egal, was ich über Jannik gehört habe. Zumindest kann ich es einfach nicht mit dem Jannik vereinen, den ich kennengelernt habe.

"Aber was soll ich jetzt tun?" Verzweifelt vergrabe ich mein Gesicht zwischen meinen auf der Tischplatte gefalteten Armen. Wieder einmal ist meine Schwester meine Anlaufstelle - die einzige, mit der ich über solche Angelegenheiten spreche, nachdem meine Mutter mir in der Markus-Angelegenheit sehr deutlich gemacht hat, dass sie nicht ruhig und unparteiisch bleiben kann, wenn es um mich geht. Und wieder habe ich das Glück, dass Christian irgendwo unterwegs ist: Arbeiten oder in seiner eigenen Wohnung. Die Beziehung der beiden werde ich wohl niemals verstehen.

Sandra streichelt mir über den Kopf und wartet, bis ich zu ihr aufsehe. Sie hält beide Hände mit den Innenflächen nach oben über die Tischplatte gebreitet und streckt eine ein Stück in meine Richtung. "Moritz.", sagt sie. "Wenn du dich für ihn entscheidest, wirst du zwangsläufig unglücklich. Du wirst Dinge tun, die du nicht willst, und das hast du schon durch, das weißt du genau. Ihn würdest du damit vermutlich sehr glücklich machen. Bis er irgendwann spürt, dass du nicht ganz bei ihm bist, oder du ihn ohne Erklärung verlässt." Sie spielt auf Markus an und ich weiß, dass sie nie verstehen konnte, wieso ich nicht mit ihm geredet, sondern übers Handy mit ihm Schluss gemacht habe. Ich hätte es nicht anders getan, aber ich respektiere, dass sie eine Meinung dazu hat und sie vertritt, anders als Mama, für die ich in der Sache nur ihr "armes kleines Baby" war. Ich stimme ihr zögerlich zu, füge in Gedanken an, dass ich permanent mit Jannik konfrontiert wäre und Moritz auf Dauer merken würde, dass seine Befürchtungen sich bewahrheiten und ich seinen besten Freund mehr begehre als ihn.

Sandra zieht die Hand zurück und bewegt die andere auf mich zu. "Jannik.", sagt sie. Dann schaut sie mich aufmunternd an.
Ich überlege, wo ich anfangen soll, denn es gibt einfach zu viel, das dagegen spricht. "Wenn ich mich für Jannik entscheide, verletze ich Moritz. Er hat genau davor Angst, dass jeder, in den er sich verliebt, Jannik mehr mögen könnte. Wie sollte er danach ein vernünftiges Selbstbewusstsein aufbauen?" Sandra schüttelt rigoros den Kopf. "Das ist nicht deine Verantwortung. Deine Gefühle suchst du dir nicht aus und wie er mit den Begebenheiten umgeht ist seine Sache. Vielleicht verliebt sich ja wirklich der Großteil aller Männer, auf die er je stehen wird, in Jannik. Dann muss er einen Weg finden, damit klarzukommen, genauso wie du."

Unsicher, ob ich ihre Argumentation nachvollziehen kann, mache ich weiter. "Ich würde ihre Freundschaft kaputt machen und..." Sandra unterbricht mich mit einem erneuten Kopfschütteln. "Erstens: Gleiches Argument wie eben. Zweitens klingt es so, als sei ihre Freundschaft sowieso nicht die gesündeste." Zumindest beim zweiten Punkt muss ich ihr zustimmen.

"Ich würde Moritz trotzdem weiterhin sehen und hätte die ganze Zeit über ein schlechtes Gewissen." Sandra nickt. Gegen Gefühle kann sie nicht argumentieren, das würde ihre eigenen Worte außer Kraft setzen. "Und außerdem ist Jannik nicht gerade der Beziehungstyp. Ich würde mich also wahrscheinlich für ein paar Stelldicheins entscheiden, nicht für eine richtige Zukunft mit ihm." Sandra lacht, dieses Mal nur kurz und freudlos. "Hörst du dir eigentlich zu? Er hat dir gesagt, dass er dich liebt, du Dummkopf."

Frustriert kneife ich die Augen zusammen, reibe meine Schläfen gegen den Schmerz hinter meiner Stirn. "Du bist für Jannik.", mache ich ihr zum Vorwurf. Abwehrend hebt sie mir beide Handflächen entgegen, die eben noch die beiden Entscheidungsmöglichkeiten symbolisiert haben. "Ich bin neutral.", behauptet sie. "Ich habe nur versucht, deine Punkte neu zu beleuchten. Es klang nämlich, als seist du gegen Jannik."

Genervt stöhne ich auf, spüre Wut in mir hochkochen, die sich gegen meine Schwester richten will. Ich kämpfe sie zurück, denn Sandra will mir nur helfen. Ich bin der Idiot, der zwangsläufig jemanden verletzen wird. Vorzugsweise alle beide.

Als ich nicht reagiere, greift sie meine zur Faust geballte Hand mit ihren kleineren und faltet sie vorsichtig auf, streicht über die kitzelige Innenseite.

"Außerdem habe ich nur zwei Hände, aber in dieser Situation gibt es drei Beteiligte.", gibt sie von sich.

Mehr als erstaunt über den Weitblick meiner Schwester lehne ich mich auf ihrem Küchenstuhl zurück und stoße die Luft aus, als könne ich mit ihr das knifflige Problem aus meinem Kopf befördern. Und vielleicht gibt es dafür wirklich eine überraschend einfache Lösung.

Second Sight - Verliebt in eine PhantasieWhere stories live. Discover now