Sandra

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„Was ist mit dir denn los, Jo?"
„Kannst du mir helfen, Sanni? Ich hab Mist gebaut."

Hilflos stehe ich vor ihrer Wohnungstür und hoffe, dass sie Zeit für mich hat. Sie hat so viel um die Ohren mit der Geschäftseröffnung, dass sie mich am Telefon sicher vertröstet hätte. Aber mit wem soll ich denn sonst reden? Mit Tim? Der hat doch keine Ahnung, wie das zwischen Männern abläuft. Doch scheinbar habe ich die auch nicht.
Da stehe ich also vor meiner Schwester und schiebe flehend meine Unterlippe vor. Sanni und Jo, so heißen wir nur für einander. Für alle anderen sind wir Sandra und Jonathan.

„Komm erstmal rein, Großer. Was hast du gemacht?"
„Hab jemanden kennengelernt.", gestehe ich, als wir an dem kleinen, runden Esstisch sitzen. Die Wohnung teilt sie sich mit ihren drei Katzen, ab und zu kommt Christian vorbei, mit dem sie seit fünf Jahren zusammen ist, der sich aber offenbar noch immer nicht traut, den nächsten Schritt zu machen.
Sie nickt lächelnd, aber strahlt nicht übertrieben, wie sie das getan hätte, hätte ich mit positiven Neuigkeiten vor der Tür gestanden.
„Wer ist er? Kenn ich ihn?"
Ich zucke die Schultern, suche am Handy das Bild heraus und halte es ihr hin.
„Welcher?", fragt sie.
„Ich weiß es nicht."

„Du weißt es nicht." Ungläubig schaut sie mich an und ich fühle mich genötigt, ihr alles zu berichten. Von der App, von Mo, wie gut wir uns verstanden haben und wie schüchtern er ist. Dass ich ihn um ein Foto gebeten habe, als er die Möglichkeit eines Treffens zum ersten Mal von sich aus erwähnt hat. Und dann zeige ich ihr sogar unseren kurzen Chatverlauf.

„Ach Jo, das ist doch halb so wild! Du sagst ja nicht, welcher laut dir der Hübschere ist! Du hast ihn in keiner Weise beleidigt!"
Ich schüttele wild den Kopf. „Du verstehst das nicht. Er ist total unsicher und wird denken, ich hätte den anderen gemeint. Egal, welcher er ist." Ihre Lippen verziehen sich zu einem mitleidigen Lächeln und sie strubbelt mir durch die Haare. Erkennt meinem Problem seine Relevanz ab. „Es ist Sonntagabend. Ich habe ihm spät am Donnerstag geschrieben!", erkläre ich nachdrücklich.

Sandra steht auf, verschwindet in der Küche, lässt mich mit dem noch geöffneten Verlauf auf dem Display alleine. Ich scrolle automatisch hoch und zoome an sein Gesicht heran. Solange er nicht das Gegenteil behauptet, ist er das für mich. Der mit den feinen Gesichtszügen. Mit den dunklen Locken. Er ist so weit weg. Ich will eine Porträtaufnahme. Oder gleich das Original.

Sie kommt zurück, stellt je ein Glas Wasser vor jedem von uns hin, und gleitet auf den zurückgeschobenen Stuhl. Ein Tropfen rinnt außen an meinem Glas hinab und landet auf dem Holz des Tisches. Er verläuft an der unteren Gefäßkante und wird auf der Oberfläche einen weiteren grobgezeichneten Halbkreis zu ihrem unregelmäßigen Muster hinzufügen.

„Es gibt etliche mögliche Erklärungen, wieso er nicht geantwortet haben könnte.", erklärt sie, führt es aber nicht genau aus. Womöglich fallen ihr keine Beispiele ein. „Du könntest ihm ja nochmal schreiben, wenn du dir unsicher bist." Ich verdrehe genervt die Augen. Zuerst hatte ich an die Möglichkeit wirklich nicht gedacht, immerhin ist es doch neu, nun nicht mehr in der App zu kommunizieren. Und dann war ich überzeugt, dass ich erbärmlich wirke, wenn ich eine weitere Nachricht schicke. Nachdem er sich tagelang nicht gemeldet hat.

„Warte, hat er kein Profilfoto eingestellt? Dann weißt du doch, welcher es ist.", fällt ihr noch ein, triumphierend grinst sie mich an. Ich seufze auf. „Ich warte seit drei Tagen auf eine Antwort und du denkst, in der Zeit komme ich nicht auf den Gedanken?" Ich tippe auf das kleine Bild am oberen Rand der digitalen Konversation und es wird vergrößert. Gemeinsam blicken wir auf die in modischen aber abgetragenen Laufschuhen steckenden Füße von hinten, mitten in der Bewegung. Ein guter Schuss, der richtige Moment, gestochen scharf genau auf der Hacke, die dem Betrachter am nächsten ist. Wie für ein Werbeplakat. Aber selbst wenn es seine Füße sind, geben sie keinen Aufschluss.

Auch auf meinem Bild erkennt er mich nicht, habe ich sichergestellt, bevor er meine Nummer bekommen hat. Immerhin wollte er das nicht. Man sieht mich bloß verschwommen durch eine Milchglasscheibe. Alles, was man erkennt, sind ein paar Farben: Haare, Gesicht, T-Shirt.

„Mir fällt nichts mehr ein, Jo. Vielleicht wartest du noch ein bisschen, ob er sich doch meldet und es erklärt. Oder du schreibst ihm nochmal." Ein bisschen wirkt sie genervt, dass sie mir bei der Angelegenheit nicht helfen kann. Ich bedanke mich halbherzig, nehme einen Schluck von dem Wasser und wische mir beim Aufstehen die nasse Hand am Hosenbein ab. „Sag mir Bescheid, was sich ergeben hat!", ruft meine Schwester mir nach, bleibt an ihrem Esstisch sitzen, während ich den Weg nach draußen alleine finde.

Wieder zuhause bin ich so schlau wie vorher. Vielleicht hat sie Recht und es gibt eine Erklärung. Er könnte sein Handy verloren haben, ausgeraubt worden sein, ist plötzlich erblindet und kann meine Nachricht nicht lesen, liegt nach einem Unfall im Koma, hat einen anderen gefunden. Aber will ich das wirklich erwägen? Wäre es da nicht das Beste, ich hätte ihn in seiner Unsicherheit bestärkt, sodass er keine Lust mehr hat, den Kontakt zu halten?

Ich entledige mich meiner Klamotten und will nur ins Bett fallen, werde aber noch duschen gehen, bevor ich morgen wieder unter Menschen muss. Halb unter meinem Kissen hervor ragt ein Stück Papier, das ich nicht gleich erkenne. Ich ziehe daran und halte ihn in meinen Händen. Richtig herum. Mo.
Wenn er nicht mehr antwortet, werde ich nicht erfahren, ob ich richtig liege mit Vermutung und Hoffnung. So wird der Schöne immer Mo für mich bleiben können. Kein schlechtes Gewissen, weil ich mich körperlich zu ihm hingezogen fühle, ohne seinen Charakter eindeutig zuordnen zu können.

Aber ist es das? Wäre ich beim ersten Anblick davon ausgegangen, ich hätte Jannik vor mir, oder man hätte mir verklickert, der Dunkelhaarige sei ein Bruder von Markus, fände ich ihn dann auch so attraktiv? Oder ist es eine Mischung aus beidem? Aus dem Körper und dem Charakter, den ich ihm ganz automatisch zugeschrieben habe?

Mit dem ernüchternden Gedanken, mich niemals vor ihm rechtfertigen zu müssen, wenn wir keinen Kontakt mehr haben, ist die Scham geringer, als ich das Bild von außen an das Glas der Duschkabine klebe. So kann ich ihn von innen sehen. Vielleicht ist es verrückt, oberflächlich ganz bestimmt, und völlig respektlos gegenüber dem Menschen, der vielleicht eigentlich dahinter steckt. Aber ich werde es schließlich niemandem sagen. Hier im Badezimmer sind nur das Foto und ich.

Hin und hergerissen dazwischen, ihn zu betrachten oder genüsslich die Augen zu schließen, wechselt sich sein Anblick mit dem ab, der sich auf die Innenseite meiner Lider geprägt haben muss. Meine Hand gleitet mit einem Film aus Wasser und Duschgel dazwischen über meine Brust, meinen Hals entlang. Ob es je dazu gekommen wäre, dass er mich so berührt, wenn ich es nicht kaputt gemacht hätte? Ob er von sich aus seine Hand nach mir ausstrecken würde oder warten, bis ich den ersten Schritt mache? Ich kenne nicht einmal alle Details seines Gesichts, kenne nur diesen einen freudig strahlenden Ausdruck. Wie schaut er, wenn er zu mir unter die Dusche steigt und meinen Körper mit seinen langen Fingern erkundet? Wie sieht er aus, wenn er erregt ist?
Meine Hände gleiten tiefer, streicheln mich sanft, wie ich mir vorstelle, dass er es tun würde. Vorsichtig, erprobend, zumindest beim ersten Mal. Dann sind seine Finger um meine Erregung, seine Augen sprühen Funken und da sind verschmitzte Lachfältchen in den Winkeln. Er neckt mich. Fährt bloß ganz langsam mit der Hand an mir auf und ab. Ich höre mich selber stöhnen, höre den Widerhall von den Glaswänden. Wie er wohl klingt, wenn ich ihn genauso verwöhne? Was tut er als nächstes?

Er tritt näher an mich heran, bis sich unsere Oberkörper berühren, unsere Zehen ineinander verschränken. Sein Penis drückt sich hart gegen meinen Hüftknochen. Sein Blick wandert an uns hinab, meiner bleibt an seinem Gesicht hängen. An diesem schönen Gesicht.
Die Bewegungen werden schneller und dringlicher, seine Augenlider flattern. Ich spüre, wie ich noch weiter anschwelle, wie es ganz tief unten in meinem Bauch leicht zu kitzeln und dann heftig zu kribbeln beginnt. Er erkennt, dass ich soweit bin, und betrachtet mein Gesicht, verflicht seinen Blick mit meinem.
Ehe mein Erguss davongespült wird, höre ich mich seinen Namen seufzen. Ich kneife die Augen fest zusammen, um noch nicht erkennen zu müssen, dass er nicht da ist.

Was hat das zu bedeuten? Wieso nimmt mich das so mit? Nach all den ausgetauschten Nachrichten liegt Mo mir am Herzen. Aber bis vor Kurzem hätte ich nicht einmal über Verliebtheit nachgedacht. Dazu fehlte zu viel. Anblick, Geruch, Klang, der tatsächliche Umgang miteinander, ... Wieso bin ich plötzlich der Meinung, es sei jetzt anders?

Second Sight - Verliebt in eine PhantasieWhere stories live. Discover now