Besuchszeit

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"Kannst du mir helfen?" Meine Stimme hört sich in meinen Ohren blass und atemlos an. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass ich nicht genug Kraft aufbringe, um deutlich zu sprechen, oder ob der Schwindel zu laut in meinen Ohren rauscht. Aber auch Moritz scheint es zu hören, denn er reagiert alarmiert. "Was ist los?"

"Ich blute. Ich hab mich irgendwie geschnitten und... ich weiß nicht, was... in meine Hand... es hört nicht auf." Ich komme mir erbärmlich vor, dass ich nicht weiß, was zu tun ist, und ausgerechnet Moritz um Rat frage. Ausgerechnet jetzt.

"Ganz ruhig atmen, Jonathan. Setz dich hin. Heb deinen Arm hoch. Hast du ein sauberes Handtuch da?" Ich schüttele den Kopf, verneine nach einer Weile hörbar, als er nachfragt, ob ich noch da sei.

"Ich bin schon unterwegs, aber ich lege nicht auf, okay. Versuch mit der anderen Hand deinen Oberarm abzutasten. Es gibt da eine Stelle auf der Innenseite zwischen den Muskeln. Die wirst du bei dir schnell finden. Wenn du die Finger reindrückst, kannst du deinen Puls spüren. Da drückst du drauf, okay? Das müsste den Blutstrom etwas eindämmen."

Ich versuche, zu verstehen, was er mir erklärt, klemme das Handy zwischen Ohr und Schulter ein und taste an meinem Arm herum, aber spüre nicht die Ader, von der er spricht. Stattdessen geht mir nur immer wieder durch den Kopf, wie unfair ich mich verhalte, ihn damit jetzt zu belasten. Er wäre ohnehin hergekommen, aber wir hätten uns wie Erwachsene unterhalten. Stattdessen zwinge ich ihn nun dazu, sich Sorgen zu machen, mich zu bemitleiden und mache es uns beiden nur noch schwerer.

"Es tut mir so leid, Mo.", murmele ich ins Telefon, damit er weiß, dass ich das nicht mit Absicht gemacht habe, um ihn zu manipulieren.

"Das ist nicht schlimm, Jonathan. Ich bin fast bei dir. Halte einfach den Arm oben und such die Stelle zum Abdrücken. Kannst du mir aufmachen? Gibt es irgendwo einen Schlüssel?"

Tatsächlich liegt ein Ersatzschlüssel im Sicherungskasten hinter der unteren Kante und ich will es ihm sagen, aber meine Zunge ist zu schwer. In meinem Kopf ein Bild von Mo, wie er die Tür mit seinem Körpergewicht aus den Angeln reißt. Dabei ist er dazu viel zu dünn, denke ich.

Ich kann mir nicht erklären, wieso mir so schwindelig ist. So groß ist die Lache noch nicht, dass ich mir Sorgen machen müsste, zu verbluten, bevor Mo da ist und die Wunde fachmännisch verbinden kann. Aber mein prüfender Blick auf das beachtliche Rinnsal, das von der Schnittstelle aus meinen emporgereckten Unterarm entlang herunterfließt und im Stoff der hochgeschobenen Hemdsärmel versickert, genügt, um erneut an der Ausrichtung des Raumes zu zweifeln. Wo ist noch gleich oben?

"Jonathan, hast du einen Ersatzschlüssel?" Mos Stimme ist drängend, gleichzeitig laut und zu leise an meinem Ohr. Weil er ruft, aber klingt, als sei mir das Telefon bereits auf den Boden gefallen. Ich schaue hinunter, entdecke die Spritzer auf den Fliesen, einen Fleck, der sich neben mir ausgebreitet hat. Es sieht nach mehr aus, als es vermutlich ist, denke ich. Mein Handy scheint noch immer an meinem Ohr eingeklemmt zu sein, denn auf dem Boden liegt es nicht. Oder hatte ich es auf der anderen Seite? Ist doch egal, fällt mir ein. Der Schlüssel.

Aber mir fällt nicht ein, was er darüber wissen wollte. Was will Mo mit meinem Schlüssel? Soll er meine Blumen gießen, wenn ich im Urlaub bin? Wohin bin ich gereist? Es rumpelt aus der Richtung des Flurs, ein Kratzen erklingt, ein Klappern, dann ein metallisches Klimpern. "Warte mal, Mo, da ist jemand an der Tür.", vertröste ich ihn, stelle enttäuscht fest, dass ich nicht aufstehen kann, um nachzusehen, wer zu mir will.

Ich höre sich den Schlüssel im Schloss herumdrehen, sacke mit brummendem Schädel gemütlich zur Seite, als mir leicht panisch durch den Kopf geht, dass Markus schon von der Arbeit zurück zu sein scheint.

Second Sight - Verliebt in eine PhantasieWhere stories live. Discover now