Bereit

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Ich habe Jannik geküsst.

Ich weiß, dass es nicht richtig ist, ihn so zu konfrontieren, doch ich kann die Enttäuschung nicht abschütteln. Vielleicht hoffe ich, dass er böse wird, dass wir uns streiten. Dass ich ihm an den Kopf werfen kann, dass er sich bei einem Doppeldate gefälligst auf mich zu konzentrieren hat, wenn er es ernst meint. Denn auch beim Abendessen saß er wieder neben Emilia, hat sich lachend mit ihr unterhalten und mir nur ab und zu einen Blick zugeworfen. Beim Abschied hat er mir einen Kuss aufgedrückt, als sei nichts daran sonderbar gewesen.

Vielleicht hoffe ich sogar, dass er so böse wird, dass er das hier abbricht. Dass er mir sagt, dass er meine Nachbarin sowieso netter findet. Denn ich muss immer noch an den erwähnten Kuss denken. Noch nie bin ich so quälend zärtlich geküsst worden. Als sei ich wertvoll, zerbrechlich. Statt dass es um seine Begierde ging, habe ich gespürt, wie er dabei nur auf mich geachtet hat. Wieso spielt er so gut, wenn es nur darum geht, dass ich mich von Moritz löse? Und wieso nutzt er dieses Moment nicht, um Moritz die Wahrheit vorzusetzen?

Du meinst, er hat dich geküsst, oder?

Kurz muss ich lächeln über seine unerwartete Erwiderung. Doch ich kann nicht wissen, wie seine Stimme klingen würde, sagte er es. Dass ich noch immer nicht Moritz vor mir sehe beim Schreiben, erschwert eine angemessene Reaktion zusätzlich.

So könnte man es auch sagen, aber am Ende kommt es aufs gleiche hinaus.

Du weißt, dass du mir das auch hättest verheimlichen können?

Ich will nicht lügen. Nicht zu sehr, okay? Und ich will dir damit auch deutlich machen, dass das passiert ist, als du mich hast links liegen lassen bei unserem Date. Das rechtfertigt nicht den Kuss, ich weiß. Trotzdem sollst du wissen, dass ich ziemlich enttäuscht war. Oder bin.

Es tut mir Leid, Jonathan. Du verdienst meine gesamte Aufmerksamkeit und ich wollte dich nicht enttäuschen. Mir war die ganze Zeit nicht so richtig klar, ob es ein Date ist oder wieder eher ein Treffen mit Freunden. Ich war aufgeregt. Emilia ist nett, es fällt mir leichter, mit Frauen zu reden als mit Männern. Vor Allem mit so einschüchternd gutaussehenden.

Nun lache ich wirklich. Schmeichelt er mir, um die Wogen zu glätten? Wie auch immer, es funktioniert.

Danke. Für die Entschuldigung. Und bevor du gleich wütend zu Jannik rennst, bitte nicht, ja? Ich glaube, er wollte mich testen. Und ich habe versagt. Er wünscht sich einen treuen, liebevollen Partner für dich, vielleicht ist er deswegen so dagegen, dass du dich mit einem anderen Mann triffst. Weil ihm keiner gut genug für dich ist?

DAS ist eine absolut optimistische und naive Auslegung von Janniks Temperament und spielt garantiert nur eine klitzekleine Rolle in seinem Verhalten. Aber keine Sorge, ich würde ihn mir jetzt sowieso nicht vorknöpfen.

Ihr habt eine komische Freundschaft, weißt du das? So viel unterschwellige Wut und dann immer dieses Beschwichtigen.

Geschwisterliebe?

Hmm. Sandra ist immerhin ein Mädchen und ein Stück älter, wir hatten nie diese Konkurrenz-Probleme. Ist also möglich ;)

Jonathan? Es tut mir wirklich leid. Ich fühle mich blöd wegen des Dates. Ich hab dich so gern und habe dich so blöd fühlen lassen.

Jetzt ist ja alles wieder in Ordnung.

Ich weiß nicht, ich will dir beweisen, dass du mir wichtig bist, nicht irgendeine Nachbarin von dir.

Gut, wir finden bestimmt eine Gelegenheit. Vielleicht zu zweit?

Kurz denke ich an Jannik und daran, was das bedeutet. Moritz zu zweit zu treffen ist eine Entscheidung für ihn. Gegen die andere Option, die um ehrlich zu sein keine langfristigen Visionen bereithält. Ist es das, was ich will? Ich schüttele den Kopf über mich: Natürlich will ich das. Moritz ist der, der mich versteht. Der mich nicht kritisiert, wenn er einen Scherz nicht versteht, oder mich unter Druck setzt, irgendetwas zu tun. Moritz behandelt mich so, wie er gern behandelt werden möchte: geduldig, verständnisvoll, umsichtig. Genau das mag ich an ihm, genau das will ich. Sicherheit.

Was Jannik verspricht, neben dem hübschen Gesicht, dem tollen Körper und dem überraschend sanften Kuss, stellt das genaue Gegenteil dar. Ich will nicht noch ein Typ für die Nacht sein, und ich will nicht, dass er mich benutzt, um Moritz zu verletzen und ihn weiter in das Gefühl zu drängen, ihn zu brauchen, um mit jemandem zusammen zu sein. Auch wenn er sich mir gegenüber bislang zuvorkommend und freundlich gezeigt hat, ergibt sich aus dem, was Moritz mir über ihn berichtet hat, ein Bild, das mir nicht sonderlich gefällt.

Als er nicht direkt antwortet, sehe ich seine Zerrissenheit bereits vor mir. Wieder einmal war ich zu vorschnell. Ob er vorhat, mich wie bislang stundenlang warten zu lassen, bis er sich traut, sich zu entscheiden? Dieses Mal lasse ich das nicht zu.

Du würdest gerne ja sagen, aber du weißt nicht, ob du schon bereit dafür bist.

Ich bin sehr schwer zu durchschauen, was? Ich würde gerne ja sagen, aber wenn ich das tue, dann gelange ich an einen Punkt, zu dem ich definitiv noch nicht bereit bin.

Mo! Du weißt, dass ich nicht über dich herfalle, wenn wir zu zweit sind, oder? Wenn dir das zu komisch ist, können wir uns in einem Park treffen oder in einer Eisdiele. Dann brauchst du dir keine Sorgen machen, dass ich etwas im Sinn habe, das du nicht willst. Ich fände es schön, wenn wir uns zu zweit unterhalten könnten. Ohne Jannik, ohne Emilia.

Du denkst, dass ich Angst habe, dass du mit mir schlafen wollen könntest?

Du weißt, dass wir uns so viel Zeit lassen können, wie wir brauchen.

Aber ich will... Wie sage ich das?

Ich will, dass du das willst.

Ich will das nämlich.

Daran liegt es nicht. Ich bin nur noch nicht bereit, dich alleine zu treffen. Ich hab einfach Angst, wie du reagierst.

Er will? Ich schlucke an dem Kloß in meinem Hals vorbei, der sich bildet, als ein Vorstellungsbild wieder auftaucht. Der schöne, nackte, dunkelhaarige Mann, auf meinem Bett, der sagt, dass er will. Wieso? Wieso ist es jedes Mal Jannik, den ich sehen muss? Wie kann meine zweitägige Verwirrung in der Zeit, bevor Moritz mich über das Foto aufgeklärt hat, sich bloß so stark eingebrannt haben? Es ist Moritz, mit dem ich schreibe.

Wir haben uns doch schon alleine getroffen. Du hast mich geküsst. Du brauchst keine Angst haben. Ich mag den selbstunsicheren, vorsichtigen Mo. Auch wenn du das eindeutig nicht nötig hast.

Wieder schleicht sich der Denkfehler ein, ich sehe nicht den selbstunsicheren, vorsichtigen Mo vor mir, sondern den beschämt wegschauenden, errötenden Jannik. Ich weiß nicht, ob meine Finger die folgenden Worte sonst tippen und versenden würden.

Und ich will das auch.

Second Sight - Verliebt in eine PhantasieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt