Cyrano

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"Sag's mir nochmal. Was genau ist das Problem?"

Ich vergrabe meinen Kopf zwischen den auf der Tischplatte verschränkten Armen und seufze tief. Sandra hat sich meine Erklärungen auf dem Heimweg und seit wir hier sind bereits mehrfach angehört, und egal welche Wortwahl ich treffe, sie scheint es nicht zu verstehen.

Als ich schweige, nicht gewillt, ein weiteres Mal alles Gesagte und Nichtgesagte zu rezitieren, fängt sie von sich aus an, zusammenzufassen.

"Der Junge, mit dem du geschrieben hast -Mo?- hat dir gesagt, er sei der Blonde. Und sein dunkelhaariger Freund sei Jannik." Ich brumme zustimmend, ohne den Kopf zu heben. Sie scheint die beiden noch immer nicht auseinander halten zu können und mittlerweile beschleicht mich das Gefühl, das mich das stutzig hätte machen müssen.

"Und jetzt hat die alte Nachbarin den Dunkelhaarigen Moritz genannt." Ein weiteres Brummen. "Und als du Mo angerufen hast, weil du dich fast umgebracht hast, kam der Dunkelhaarige - der vom Pfleger auch Moritz genannt wurde."

Erbost über die Anschuldigung richte ich mich doch kurz auf. "Es war gar nicht so schlimm, ich hatte nur einen Schock und habe kaum Blut verloren!" Sandra verdreht die Augen. "Ja, nicht so schlimm! Du hast dir ja nur beim Kochen die Pulsader aufgeschlitzt. Weißt du eigentlich, wie Mama ausrasten wird, wenn sie das sieht?" Ich erwidere die Geste mit den Augen, ignoriere ihren drohenden Hinweis, der mir selbst bereits im Kopf herum gespukt ist. "Ich war abgelenkt, weil ich kurz davor war, Mo zu sagen, dass ich ihn nicht mehr sehen kann. Wozu du mir geraten hast!"

Ich weiß, es ist unfair, ihr die Schuld zu geben, aber ich weiß, dass sie das aushält. Das tut sie schon erstaunlich lange. Immer ist sie meine Anlaufstelle für alles Mögliche, das mit Männern zu tun hat. Hat sich schon um mich gekümmert, wenn ich als Kind Ärger mit unserer Mutter hatte. Mich immer verteidigt und mir mit liebevoller Strenge einen Weg gewiesen. Für mich ist Sandra erstaunlich weise und auch, wenn ihre Ratschläge manchmal viel zu ehrlich sind und wehtun, würde ich niemand anderen mit meinem Problemen betrauen wollen. Und das weiß sie.

"Wann habe ich dir dazu geraten?" "Du hast gesagt, ich soll mich für mich entscheiden!" Ein verschmitztes Grinsen nistet sich auf ihrem Gesicht ein, langsam schüttelt sie den Kopf. "Gesagt habe ich das nicht." Ehe ich protestieren kann, lenkt sie ein.

"Aber zurück zum Thema. Du hast also vermutet, dass eigentlich nicht der Blonde Mo ist, sondern der Dunkelhaarige." "Na, das lag jawohl nahe, oder?", patze ich. Sandra hebt abwehrend die Hände, als wolle sie ein sich aufbäumendes Pferd beruhigen. "Und was spricht dagegen, dass es so ist? Dass sie wieso auch immer ihre Namen getauscht haben?"

Ich schüttele enttäuscht den Kopf. Hat sie nicht richtig zugehört? Dieses Detail habe ich ganz bestimmt nicht ausgelassen bei den vorigen Statusberichten. "Weil er das Tattoo nicht hat." Sie nickt, ich sehe ihrer Stirn an, wie es dahinter arbeitet. "Das Drachentattoo auf der Brust, von dem Mo dir geschrieben hat.", erinnert sie sich. Ich unterlasse einen Laut der Zustimmung, sie weiß, dass sie richtig liegt.

"Aber wieso ist das Fehlen des Tattoos der Beweis, dass er nicht Mo sein kann? Du dachtest, dass Jannik Student ist, aber er taucht mit der Jacke auf, der Pfleger kennt ihn, offenbar ist er der Rettungsassistent. Du dachtest, dass Mo sich für Pflanzen interessiert, aber Jannik erzählt dir im Wald etwas über Blumen. Es passt alles zusammen. Das Tattoo bedeutet sicher nichts."

Ihre anfänglichen Erläuterungen leuchten mir ein, doch die Sache mit dem Drachen geht mir nicht aus dem Kopf. "Nein.", entscheide ich. "Das macht keinen Sinn. Er hat mir von dem Tattoo erzählt, bevor ich einen von beiden gesehen habe. Er hat eine Geschichte dazu erzählt. Wieso sollte er sich das ausdenken? Er hätte sich ausdenken können, dass er einen beeindruckenden Beruf hat oder irgendeine tolle Fähigkeit, aber wozu sollte er mir von einem Tattoo erzählen, das es nicht gibt?"

Sandra begibt sich in die gleiche grübelnde Haltung wie ich, den Kopf auf die Arme gestützt, zu schwer vor lauter abstruser Hypothesen und Theorien. "Du hast Recht.", gesteht sie schließlich. "Es ist nicht gerade ein Detail, das ihn besonders liebenswert oder männlich wirken lässt. Es klingt einfach wie eine Anekdote aus der Kindheit, es hört sich komplett plausibel an. Die Burgbesichtigung, die verlorene Kette, ..." Ihre Worte verlangsamen sich, ihr Kopf hebt von der fleischlichen Stütze ab. Sie hat eine Idee. "Und was, wenn die Erinnerung seine ist, aber der andere das Tattoo hat? Was, wenn Moritz die Nachrichten schreibt, aber der Plan die ganze Zeit war, dass du auf den Blonden triffst. Und damit du nicht darauf kommst, dass sie ihre Rollen getauscht haben, beschreibt er sich optisch so wie eigentlich Jannik aussieht. Mit dem Tattoo und dem Foto, das dich so irritiert hat."

Dass sie diese Zusammenhänge für möglich hält, erstaunt mich sehr. Etwas in der Art ist auch mir schon als potentielle Erklärung durch den Kopf gegangen, aber es erschien mir nicht logisch genug. "Ja, aber was haben sie davon?", wende ich also ein. "Wieso sollten sie wollen, dass ich mich in Jannik verliebe, wenn Moritz seine eigenen Eigenschaften und Erinnerungen beim Schreiben einbaut. Und wieso küsst er mich dann?"

Für einen Moment glaube ich, ganz deutlich etwas in Sandras Pupillen aufflackern zu sehen. Sie setzt sich aufrecht hin und wippt hin und her, als säße sie auf einer heißen Herdplatte. "Oh, kennst du Cyrano de Bergerac?", quietscht sie aufgeregt. "Es ist wie in der Geschichte, oder? Der eine verliebt sich, aber der andere ist gut mit Worten und schreibt für seinen Freund die Liebesbriefe. Aber er ist selbst in die Angebetete verliebt, nur hat er diese lange Nase..." Ich lache trocken auf, sehe grobe Parallelen, aber zu viel, das nicht zusammenpasst. "Erstens kannten sie mich vorher nicht. Zweitens muss keiner von ihnen sich Sorgen machen, er sei unansehnlich, so wie der Typ mit der Nase." Ich bin bereit, die Liste noch weiter zu führen, als Sandra genervt abwinkt.

"Ist ja schon gut. Wir halten fest: Du hast vermutlich mit dem Dunkelhaarigen geschrieben, auf den die meisten Dinge aus seinen Profilangaben zutreffen. Aber der Blonde hat sich als Moritz ausgegeben und der Dunkelhaarige wusste davon. Offensichtlich waren sie beide an der Vertauschung beteiligt, hatten also beide irgendwas davon."

Ich zucke mit den Schultern, denn mir fällt keine plausible Erklärung ein. Vielleicht fanden sie es aufregend, beide etwas mit dem gleichen Mann zu haben. Haben geplant, dass ich mich in den Charakter des Schreibenden verliebe, dann vorgegeben, der andere sei er, sodass ich bei beiden dachte, ich stehe Mo gegenüber. "Ich sollte mich damit abfinden, dass sie irgendein perverses Spiel getrieben haben, in das ich durch Zufall reingeraten bin.", schließe ich enttäuscht meine Überlegungen ab.

Meine Schwester tätschelt mir den Rücken und seufzt leise auf. Einmal, dann zweimal. "Was?", fühle ich mich beim dritten Seufzer zu fragen verpflichtet. "Ach nichts.", behauptet sie, doch die Spannung hängt noch immer im Raum und ich kriege nicht das Gefühl, unser Gespräch sei hiermit beendet. "Jetzt sag' es einfach!", fordere ich etwas ungehalten. Ein letztes Seufzen erklingt, ehe sie sich hinreißen lässt, mir ihre Gedanken zu präsentieren.

"Ich hatte einfach den Eindruck, dass Mo dir wirklich gefallen hat. Also der Dunkelhaarige. Und ich habe noch vor Augen, wie er dich angeschaut hat, weswegen ich dachte, dass er es sei." Eine Pause, die mich ungeduldig macht. "Und wenn es alles nur ein Missverständnis war?"

Second Sight - Verliebt in eine PhantasieWhere stories live. Discover now