Der Käse danach

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"Sandra, das sind Moritz und Jannik. Jungs, das ist meine Schwester." Etwas befangen deute ich über den Tisch hinweg, hoffe, dass Sandra es irgendwie gut sein lässt. Sie hat sicher genug damit zu tun, ihre Geschäftsnachbarn und potentiellen Stammkunden zu bezirzen, doch natürlich bleibt sie bei uns stehen.

"Vielen Dank, dass wir hier sein dürfen. Das ist ein schönes Café.", bedankt Jannik sich artig.  Moritz nickt beipflichtend. "Irre lecker diese Buttercreme!"

Sandra lässt ein glockenhelles Lachen erklingen - so lacht sie, wenn fremde Menschen in der Nähe sind, denen sie gefallen will. Ich mag ihr offenes, raues Lachen, wenn wir zu zweit sind und die peinlichsten Gespräche überhaupt führen. "Sehr gerne und vielen Dank." Sie drückt meine Schulter und  wendet sich an mich. "Nett, die beiden." Ich höre beim Blick in ihre funkelnden Augen - trunken vom Rausch des erfüllten Lebenswunsches - die gedachten Worte: "Darüber reden wir später."

Sie deutet auf das zur Hälfte vernichtete Gebäck, neben dem Jannik seine Gabel abgelegt hat. „Du bist hier also der mutige Feinschmecker.", vermutet sie, in Hinblick auf die Wahl des Bohnen-Kuchens. "Jonathan hat für uns gewählt.",  erklärt Moritz lächelnd von der anderen Tischseite. Ich verfolge Sandras  Blick zu Moritz, zu mir, über die drei Teller und deren Inhalt, dann wieder zurück zu mir. "Oh.", sagt sie bloß, mustert mich leicht  irritiert. Ich erwidere den fragenden Blick, als es von Moritz und Jannik synchron schallt: "Was denn?"

Statt darauf einzugehen, schenkt sie uns noch einmal ein strahlendes Lächeln. "Esst auf, Jungs, die nächste Runde wähle ich für euch aus. Ihr müsst mir am Ende sagen, welches euer Favorit ist!" Moritz reißt erschrocken die Augen auf. "Wir sollen alle zwölf probieren?" Sandra winkt ab. "Das sind vier ganze  Törtchen für jeden, wenn ihr teilt. Für ein paar gestandene Männer wie euch doch sicher kein Problem." Sie zwinkert den beiden zu, als ob ihr Charme etwas gegen die begrenzte Kapazität unserer Mägen ausrichten könnte.

Als sie durch das Getümmel davonwuselt, schüttele ich den Kopf. "Keine Sorge, wir werden hier nicht rauskugeln." Moritz streckt sich grinsend quer über den Tisch und tunkt seine Gabel in Janniks Küchlein. Ich steche ein Stück von meinem ab und reiche es Jannik herüber. Ich erwarte, dass er mir das Besteck abnimmt, doch er scheint nicht ganz zu begreifen, was ich von ihm will, beugt sich vor und kommt mir mit leicht geöffneten Lippen  entgegen. Bevor ich reagieren kann, schließen sie sich um den Bissen und mit nun geschlossenen Augen lehnt er sich zurück. Ich schlucke, lenke mich dadurch ab, nun meinerseits ein Stück von Moritz zu stibitzen und es zu kosten. Grapefruit ist nicht ganz mein Geschmack, aber die Kombination aus der bittersauren Frucht und der cremigen Süße überrascht mich positiv. Nicht mein Favorit, aber ein weiterer Beweis für Sandras  Kunstfertigkeit. Als meine Lippen über das angewärmte Metall streichen, wird mir bewusst, dass sie es an der gleichen Stelle berühren, wie zuvor Janniks, und eine Hitze kriecht aus meinem Nacken empor in meine Wangen. 

Moritz, denke ich, Moritz, doch irgendwie hat er noch nichts gesagt, das ihn als den zu erkennen gegeben hat, der er für mich ist. Der geistreiche, vorsichtige, humorvolle Moritz aus seinen Textnachrichten. Ich weiß, dass  Selbstunsicherheit sich sehr unterschiedlich äußern kann, und dass es gut möglich ist, dass er seine Strategien gefunden hat, das Gefühl zu  überspielen. Doch genau das finde ich schade. Vielleicht zeigt er sich, wenn wir alleine sind. Ob es dazu heute noch kommt?

Tatsächlich bringt Sandra eine zweite Runde Törtchen und lässt sich berichten, wie wir die  bisherigen fanden: Allem Anschein nach habe ich die Geschmäcker gut getroffen. Moritz sitzt nun vor einem defitig aussehenden  Schokoladentraum, Jannik ist mit einem leichten, minzigen Schaumtörtchen  konfrontiert. Fast schon triumphierend bemerke ich ihre anerkennenden, aber abwägenden Blicke beim ersten Bissen: Die vorher haben ihnen besser geschmeckt.

"Tauschen?" Ich halte Moritz Erdbeer-Mandel hin, weil er mit der geballten Ladung an Zucker  und Fett leicht überfordert aussieht. Auch ich habe mir das Naschen mehr und mehr abgewöhnt, aber zu Gelegenheiten wie diesen, drücke ich mir ein Auge zu. Morgen trainiere ich dann ein wenig länger und beruhige so mein Gewissen. Er lächelt dankbar und stürzt sich darauf. "Ich glaube nicht, dass ich noch mehr probieren kann.", seufzt Jannik bedauernd und Moritz schüttelt zustimmend seinen Kopf. "Nichts Süßes zumindest. Ich habe nach so viel Kuchen immer das Bedürfnis, den Geschmack mit Käse abzumildern." "Dass da jetzt noch was in dich  reinpasst!", staunt Jannik. Moritz lacht seinen Freund an, interessiert beobachte ich ihren Austausch. "Na bei dir sicher nicht, du Bohnenstange!", lacht Moritz. Jannik stimmt ein, bis er sich an meine  Anwesenheit zu erinnern scheint und sein Blick nervös zu mir herüber zuckt. Wieso ist er plötzlich so? Er war doch bei unserem ersten  Aufeinandertreffen ganz entspannt.

"Also was zu Essen muss ich euch vermutlich nicht anbieten, aber wenn ihr wollt, können wir hiernach noch zu mir gehen. Ich hab noch Bier von der letzten Feier mit den Kollegen da und wir könnten uns einfach noch ein bisschen  unterhalten." Unsicher, ob der Vorschlag einem Nicht-Date mit bestem Freund im Anhang angemessen ist, betrachte ich ihre Reaktionen. Jannik schaut mulmig zu Moritz herüber, der seinen Blick mit ernster Miene  auffängt und mich nach einem Moment - lang genug, um ihn recht deutlich einer stummen Abstimmung zuzuordnen - anlächelt. "Gerne.", entscheidet er für sie beide. Kurz flammt in mir der Gedanke auf, dass in Filmen nun der Moment wäre, in dem der gute Freund eine Ausrede findet, um das zukünftige Paar alleine zu lassen, oder aber - bei schlecht gelaufener  Begegnung - eine Ausrede für sie beide findet. Keines von beidem scheint einzutreten, denn auch Jannik lächelt mich nun zaghaft an, nickt. "Und eine Scheibe Käse habe ich sicher auch noch anzubieten.", fällt mir ein.

Ehe wir gehen, verabschiede ich mich von meiner Schwester, drücke sie an mich. Sie ist  warm und weich, das Naschen beim Backen hinterlässt seine Spuren an ihrer Hüfte und auf ihren Oberarmen und das gefällt mir gut an ihr. „Was meintest du vorhin mit Oh?" Sie hebt die Augenbrauen, blickt mich irritiert an, bis es ihr wieder einfällt und sie den Kopf schüttelt. „Ich weiß nicht mehr, was mir da durch den Kopf ging.", behauptet sie, doch ich nehme mir fest vor, es demnächst aus ihr herauszukitzeln.

Moritz verkündet, dass er die sanitären Anlagen des neueröffneten Cafés inspizieren wird, und so trete ich hinter Jannik hinaus aus der Tür, um draußen mit ihm zu warten. Er tritt leicht ungeduldig von einem Bein aufs andere, schaut nicht zu mir herüber, und ich frage mich, ob das an meinem Verhalten liegt. Immerhin hat er mir nichts getan und die Situation, von der Mo mir berichtet hat, liegt Jahre zurück. Die beiden scheinen zu einer  guten Freundschaft zurückgekehrt zu sein, also wieso sollte ich ihm meine Freundlichkeit verwehren?

„Jannik?" Sein Blick zuckt zu mir hoch, er sieht unglücklich aus. „Willst du, dass ich  gehe?", flüstert er. Überrascht schüttle ich den Kopf. „Nein, ich will mich entschuldigen. Ich bin die ganze Zeit so distanziert, dabei haben wir uns ja neulich ganz gut verstanden." Ich versuche mich an einem Grinsen, das ein wenig zerfällt, als mir einfällt, dass wir uns im Wald nicht nur gut verstanden, sondern objektiv betrachtet vermutlich miteinander geflirtet haben. Auch das ist sicher ein Grund, aus dem ich nicht gerade überschwänglich auf seine Anwesenheit reagiert habe.

Jannik schüttelt den Kopf, sein Ausdruck erhellt sich ein wenig, sein Mundwinkel zuckt. Ob ich das Grübchen nochmal zu sehen kriege? „Stimmt.", sagt er nur.

Second Sight - Verliebt in eine PhantasieWhere stories live. Discover now