36.

1K 71 9
                                    

Ich lese die Prospekte auf meinem Tisch durch. Es ist sechs Uhr und ich habe noch ein bisschen Zeit, bevor Shadow kommt und mich abholt. Die ganze Sache mit einem Stipendium ist anscheinend komplizierter, als ich gedacht habe, und wenn ich tatsächlich noch eines ergattern möchte, muss ich mich langsam richtig damit auseinandersetzen, mehr lernen und damit schliesslich auch perfekte Noten ergattern. Außerdem sollte ich mich bald anmelden. Sonst werde ich meinen innerlichen Plan, welchen ich gestern Abend mit mir selbst geschmiedet habe, nicht durchziehen können.

Ich zwirble mir eine Haarsträhne um den Finger und lese die Kontakte der Queenston High durch, falls sich einmal etwas ändern sollte. Oder jemand eine Frage hat. Vielleicht kenne ich ja jemanden. Wie zum Beispiel Mrs. Philosophie. Aber bei ihr weiss ich nicht einmal, wie sie heisst. Ich seufze. Ich sollte definitiv einmal anfangen, ihrem Unterricht eine Chance zu geben. Es ist ja schliesslich nicht ihre Schuld, dass es Fragen gibt, auf welche man keine Antwort geben kann.

Ein Klopfen reisst mich aus meinen Gedanken und alarmiert wandert mein Blick zur Uhr auf meinem Schreibtisch. 18:05. Puuuuh. Ich atme erleichtert aus. Ich habe sie vorher also auch nicht falsch gelesen. Das ist nicht Shadow.

»Hope?«, steckt meine Mutter ihren Kopf auch schon durch die Tür, bevor sie diese ganz aufmacht. Ich seufze. Sie hätte gar nicht klopfen müssen, wenn sie sowieso keine Antwort gewollt hat. Andererseits...sie hat sich wahrscheinlich sowieso nur ankündigen wollen.

»Ja?«, frage ich zurück, während sie mich mustert. Sie hat sich an die Wand hinter sich gelehnt und betrachtet mich und all die Flyer auf meinem Tisch. Ich lecke mir über die Lippen. Das hätte eigentlich eine Überraschung werden sollen. Aber auch nur, falls ich es tatsächlich geschafft hätte.

»Hope«, wiederholt sie, diesmal viel sanfter. Ich blinzle unschuldig, als würde ich mich nicht daran erinnern, dass sie eigentlich nicht möchte, dass ich mich ebenfalls um uns sorge. Zumindest mental. Ich schenke ihr mein bestes Lächeln, um sie abzulenken, was vielleicht funktioniert hat, als ich Zehn gewesen bin, momentan wahrscheinlich aber eher nicht besonders wirkungsvoll ist.

»Das ist mein Job«, stellt sie klar. Ich zucke mit den Schultern.

»Genau genommen ist die Schule auch mein Job, Mom. Du kannst mir nicht verbieten, einmal etwas semi-nützliches zu tun. Ausserdem ist das ganze interessant« -ja, genau. Wer's glaubt, wird selig- »und ich kann etwas dazu lernen. Es muss ja nicht heissen, dass ich sofort angenommen werde, sobald ich mich einschreibe. Und ein Stipendium zu haben soll - und ich zitiere - Engagement, sowie auch Interesse am Schulwesen und der eigenen Zukunft zeigen. Das wird total gut ankommen bei...bei Menschen eben«, sage ich, weil mir auf die Schnelle nichts Besseres einfällt. Ich verziehe meine Lippen erneut zu einem Strich, der einem schleimerhaften Grinsen gleichen sollte.

Wieso kann ich das nicht mehr? Als Kind habe ich das ständig gemacht und jetzt ist es einfach so merkwürdig. Ich verziehe mein Gesicht über diesen Gedanken.

»Das ist mir bewusst. Ich möchte einfach nicht, dass du dich zu etwas gewzungen fühlst, Schatz. Du sollst dich nicht anmelden, wenn du das gar nicht willst. Wir sind nicht pleite«, erklärt meine Mutter, wobei das ›noch nicht‹ förmlich zwischen uns hängt. Ich nicke zustimmend.

»Das mache ich nicht. Versprochen.«

Mom stösst sich von der Wand hinter sich ab und umarmt mich seitlich, sobald sie neben mir steht.

»Aber danke, Hope. Es ist toll von dir, dass du dir Mühe gibst.«

Ich umarme sie zurück und diesmal bringe ich sogar ein ehrliches Grinsen zustande. Endlich. Da sind meine Fähigkeiten ja wieder.

»Mom?«, frage ich in die Stille. Ich habe meine Augen dabei geschlossen und auch wenn wir gestern Frieden geschlossen haben, ist es gut zu wissen, dass dieser angehalten hat und ihr genauso viel bedeutet wie mir auch.

ShadowWhere stories live. Discover now