|| 17 || Die Autofahrt

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Leandro Cassamento

Ich weiß nicht, wie das geschehen konnte. Ich weiß nicht, wieso Avyanna ihre Meinung geändert hat. Ich weiß nicht wieso, aber letztlich spielt es keine Rolle. Sie ist bereit, mir, uns, eine neue Chance zu geben.

Obwohl dieser Tag, genauso wie die letzten Wochen, alles andere als erfreulich war, bin ich nun beschwingt, getrieben von frischer Energie und neuer Motivation. Avyanna und ich sind wieder ein vereintes Team, wie und je. Mir mögen nicht wieder zusammen sein, doch die Zeit wird zeigen, ob unsere Liebe stärker ist als all die Umstände, die uns das Leben schwer machen.

Trotz meiner frisch entflammten Hoffnung, die wie ein einsamer Lichtstrahl in der Düsternis leuchtet, kann ich die Dunkelheit nicht ignorieren. Denn ohne Leiden gäbe es keine Hoffnung und ohne Hoffnung kein Leiden. Manchmal benötigt es sich schwere Zeiten, um die guten zu schätzen. Erst die Mischung macht ein Leben lebenswert.

«Willst du mir nun verraten, wo wir hinfahren?», erkundigt sich Avyanna. «Irgendwann musst du mir sagen, wer gestorben ist.» Ihr Kopf ist zu mir gedreht, eine Sorgenfalte gräbt sich in ihre Stirn. Nachdem wir in meinen Mercedes gestiegen sind, hat die Wirklichkeit sie zurückgeholt. Sobald sie sie angeschnallt war, steckte sie wieder in der Rolle des Mafia Bosses. Ein Mafia Boss, der sämtliche private Sorgen vergisst. Das ist die Schwierigkeit unserer Jobs – Privatleben ausblenden, damit man seine gesamte Konzentration auf seine Familie lenken kann. Besonders in Zeiten wie diesen darf uns kein Fehler unterlaufen. Wir haben letztens auf dem königlichen Ball gesehen, wie das sonst enden kann.

Als ein Mafia Boss steht das eigene Leben stehts an zweiter Stelle, ebenso die Liebe. Die Liebe gilt an erster Stelle der Familia. Aus diesem Grund werde ich nicht zulassen, dass sie sie ihre Position für mich opfert. Mein größter Wunsch ist, dass sie glücklich ist und mir ist schmerzlich bewusst, dass sie ohne ihre Mafia niemals glücklich sein wird.

Ihre Familia mag sie schrecklich behandeln, aber das ändert nichts daran, dass sie mit ihr aufgewachsen ist; dass sie, noch bevor sie volljährig wurde, ihr Leben der Mafia verschrieb.

Nervös tippe ich mit meinen Fingern auf das Lenkrad, Augen auf der Straße. «Mir gefällt die Aufgabe des Überbringers schlechter Nachrichter nicht.»
«Als Boss musst du auch Aufgaben bewältigen, die dir nicht gefallen.»
«Doch das hindert mich nicht daran, mich vor ihnen zu drücken.»

Avyannas Mundwinkel zucken, jedoch wird sie innerhalb einer Sekunde wieder ernst. «Mittlerweile bin ich schlechte Nachrichten gewöhnt.» Sie seufzt. «Nun sag schon. Wer wurde ermordet?»
Meine Augenbrauen ziehen sich zusammen. «Woher weißt du, dass es Mord war?»
Sie rollt ihre Augen. «Das ist eine Beleidigung. Ich kann ja wohl Eins und Eins zusammenzählen.»
Ich schürze meine Lippen. «Entschuldige, so war das nicht gemeint.»
Leise seufzt sie. «Ich weiß. Aber spann mich nicht länger auf die Folter. Je länger du es vor mir verheimlichst, desto weniger Zeit habe ich, die Neuigkeiten zu verdauen.»
Ich nicke. Wir werden in zehn Minuten am Tatort ankommen. Dort braucht sie einen klaren Kopf. Ich blinke rechts und fahre an die Straßenseite. Ich schlucke schwer, während ich in meinem Kopf die passenden Worte heraussuche. Schon auf der Fahrt zur Ancelotti Villa habe ich mir passende Sätze ausgesucht, die mir jedoch wieder entflogen sind.

Kurz schnellen meine Finger auf das Lenkrad, tippen darauf wild herum. Seufzend lasse ich das Lenkrad los, wende mich Avyanna zu. «Casper ist tot.»

Der Mann, der die Aufzeichnungen in Vincenzos Büro gefunden hat, wurde ermordet.

Als Cassian mir die Neuigkeiten weitergab, erwähnte er, dass Sergio nach dem Fund des Leichnams mehrmals gegen die Wand geschlagen habe, bis sein Blut auf den Boden spritzte. Dabei kannte er Casper nicht annähernd so gut wie Avyanna.

«Casper?» Avyannas Stimme ist gebrochen und rau. «Casper ist tot?»
Ich beiße mir auf die Unterlippe, nicke schwach. «Mein Beileid.»
Abwesend starrt Avyanna in die Luft. Ihre Augen sind geweitet, ihr Mund steht leicht offen. Ich ergreife ihre Hand, drücke sie fest. «Es tut mir leid.» Es tut mir leid, dass wir ihn nicht beschützen konnten.

«Ich bin schuld», haucht sie, noch immer in die Leere starrend.
Heftig schüttele ich meinen Kopf. «Nein, es ist nicht deine Schuld. Wir wussten nicht, dass sein Leben in Lebensgefahr schwebte und selbst wenn wir Soldaten um sein Haus aufgestellt hätten, wären dann vielleicht nur noch mehr gestorben.»
«Wir hätten es wissen müssen.» Avyanna dreht ihren Kopf zu mir, sieht mich an. Die Trauer ist aus ihrem Blick gewichen, hat Platz für Entschlossenheit und Wut gemacht. Wut auf den Tod ihres Kumpels. Wut auf den Mörder. Wut auf sich selbst. «Wir hätten wissen müssen, dass sein Leben in Gefahr ist! Er hat Vincenzos Plan durchkreuzt. Wir hätten es wissen müssen!»

«Wir wissen nicht, ob Vincenzo dahintersteckt.»

Avyanna verfällt in hysterischen Lachen, das sich falscher nicht anhören könnte. «Das du das auch nur infrage stellst!»
«Noch wurden keine Beweise gefunden.» Ich zucke mit meinen Schultern. «Mafiosi sind stets in Lebensgefahr. Kaum jemand unterstützt unsere Machenschaften. Zudem war er ein recht bekannter Kapitän. Es ist anzunehmen, dass er sich mehr als nur einen Feind gemacht hat.» Falls es doch Vincenzo war, dann hätte er Casper genauso gut töten können, weil er ihm nichts mehr nutzte. Ich verstehe, dass Avyanna nicht wahrhaben möchte, dass Casper sie vielleicht verraten hat, jedoch können wir es nicht ausschließen. «Wir müssen jede Möglichkeit in Betracht ziehen.»

Wenn wir uns jetzt schon auf Vincenzo verschießen, könnten wir Hinweise übersehen, die auf einen ganz anderen Mörder schließen würden. Wir würden unsere Sicht- und Denkweise begrenzen, was unser Tod zur Folge ziehen könnte.

Mehrere Sekunden sieht Avyanna mich mit einem unergründlichen Blick an. Dann blinzelt sie und sie ist zurück in der Rolle des rationalen Mafia Bosses. «Du hast recht. Ich hätte mich von meiner Wut nicht verleiten lassen sollen.»
Leicht schüttele ich meinen Kopf. «Es ist nur logisch, dass solch eine Nachricht dich aus der Bahn wirft. Mach dir keine Vorwürfe.»
«Danke, dass du mich zurück zum Boden der Tatsachen geholt hast.»
Schwach lächle ich. «Dafür sind Partner da.»

Kurz lächelt sie mich an, bevor sie sagt: «Wir sollten uns wieder auf den Weg machen. Wir wollen die anderen nicht zu lange warten lassen.»
Nachdem ich sie prüfend gemustert habe, um sicher zu gehen, dass sie ihre Gefühle wieder unter Kontrolle hat, folge ihrer Anweisung. Schließlich fragt sie mich: «Haben Sergio und Cassian ihn gefunden?»
Ich nicke. «Sie wollten ihm erneut einen Besuch abstatten, um ihn weiter auszufragen, da sie letztes Mal nichts Nützliches herausfanden. Jedoch machte ihnen niemand auf, was sie stutzig machte, da der GPS-Tracker von Caspers Handy anzeigte, er würde sich im Haus befinden. Sergio knackte das Schloss und kurz darauf fanden sie Casper tot auf.»

«Denkst du, Vincenzo hat ihn getötet, damit er uns nichts verraten kann?»
«Möglich.»
«Ich kann nicht glauben, dass Casper uns verraten haben soll.» Schwer seufzt sie. «Es macht einfach keinen Sinn. Wie ich es auch drehe und wende, erschließt sich mir keine logische Erklärung, weshalb er dies tun sollte.»
«Vielleicht hat Vincenzo ihn erpresst.»
«Mit Geld?»
«Nicht unbedingt», gebe ich zu Bedenken. «Womöglich hat er ihn mit seinem Tod gedroht.»
Avyanna legt ihren Kopf schief und beißt sich auf ihre Lippe, während sie scharf nachdenkt. «So wie ich ihn einschätze, würde er eher sein Leben geben, als seine Familia zu verraten.»

«Hat er eine Freundin? Familie?»
«Nicht das ich wüsste.»

Wieder bleibt es für mehrere Sekunden still. Nur das Brummen des Motors ist zuhören. Avyanna durchbricht die Stille: «Was auch immer geschehen ist, wir werden es herausfinden.»

«Zusammen.» 

Mafia Romance 2 Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt