|| 37 || Die Suche

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Leandro Cassamento

Die Erde bebt. Dann bleibt sie stehen.

Mein Körper stoppt, setzt auf Pause. Ich nehme nichts wahr. Keine Schreie, keine Geräusche, keine Sonne, kein Wind, kein Herzschlag. Nur die schiere Panik in meiner Brust vermag ich nicht auszublenden. Es ist, als würde ich mich von der Realität abkapseln. Als wäre mein Wunsch so stark, dass die letzten Sekunden nicht real wären, dass ich mich, die Gegenwart und die Realität verliere.

Dann bricht alles auf mich ein.

Die krampfhafte Enge in meiner Brust, meine kurzatmige Atmung, die Spannung in meinem Körper. Ich benötige eine Sekunde, um mich neu zu orientieren. Vinzencos Koordinaten, Luigis Menschenlager, Avyannas Schrei.

Ich bin ein schrecklicher Mensch.
Nur an Avyanna zu denken, wenn ihr Schrei einer unter vielen war.

Noch während ich diesen Gedanken zu Ende fasse, renne ich los.

Ich lasse die vier Mädchen alleine, lasse Cassian zurück. Ich renne einfach los. Ich renne los, ohne Plan, wohin. Das Lager ist groß, hat überall ähnliche Hütten und Gewächshäuser. Der perfekte Ort, um sich zu verirren. Nicht dass das eine Rolle spielen würde, denn ich nehme nichts von außen wahr. Meine Augen funktionieren, die nehmen die Sehdaten auf, sie kommen in meinem Gehirn an, werden verarbeitet, aber nicht realisiert. Als würden sie zu einem unscharfen Bild zusammengefügt werden, welches, noch bevor man es scharfstellen kann, gelöscht wird. Also renne ich einfach geradeaus. Ich renne und ich renne und ich renne. Ich tue nichts außer atmen, schwitzen und rennen.

Es dauert viel zu lange, bis ich es sehe.

Eine Rauchwolke.

Eine fette, dicke Rauchwolke im Himmel.
Höchstens einen Kilometer von mir entfernt.

Ich verlangsame meine Schritte und stemme meine Hände in die Hüfte, während mein Blick wie gebannt auf der Rauchwolke liegt. Ich sollte schneller rennen, doch stattdessen blinzele ich mehrmals; möchte nicht wahrhaben, dass das keine normalen schwarzen Wolken sind.

«Feuer!», schreit jemand. Ich weiß nicht wer ruft oder woher es kommt. Wie gebannt schaue ich auf die Rauchwolke, wage es nicht zu atmen. Erst nach einer Sekunde realisiere ich, dass ich stehengeblieben bin.

Ich darf nicht stehen bleiben.
Avyanna braucht mich.
Und ich brauche sie.

Avyanna.
Sie muss leben.

Jemand ruft meinen Namen. Ich renne weiter. Das Funkgerät knistert, jemand gibt Anweisungen. Ich höre nicht zu. Ich renne weiter. Erneut wird mein Name gerufen. Ich renne weiter. Jemand schreit nach Avyanna. Das bin ich. Ich schreie ihren Namen. Immer wieder schreie ich ihn. Immer weiter renne ich.

Erst als jemand neben mir auftaucht, verlangsame ich mein Tempo. Cassian. Sorgenfalten, Schweiß auf der Stirn, Schnappatmung. In seinen Augen brennt dieselbe Angst wie in meinen. Dann verstehe ich. Sergio.

Sergio befand sich in Avyannas Nähe.
Sergio hat auch geschrien.
Sergio ist in Gefahr.

Lebensgefahr.

Nein. Sie leben. Sie werden überleben. Avyanna und Sergio werden leben.

Wir rennen. Wir werden schneller. Meine Lunge brennt, meine Füße schmerzen, der Atem wird knapp. Wir rennen weiter.

«Avyanna!», krächze ich.
«Sergio!» ruft Cassian.
Keine Antwort.

Das Gewächshaus, ich sehe es! Ich höre es. Die Stimmen und Schreie. Kinder weinen. Menschen rennen umher, rufen sich gegenseitig Anweisungen zu.

Mafia Romance 2 Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt