|| 20 || Das Verhör

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Avyanna Salvatore

Ich will wissen, was vor sich geht und ich bin bereit alles zu tun, um an Informationen zu gelangen.

Leandros und meine erste Station ist bei Jason, der sich erst seit Kurzem von seiner Grippe erholt hat.

Leandro wirft mir einen kurzen Seitblick zu, bevor er bei Jason klingelt. Jason wohnt alleine in seinem Elternhaus. Sein Vater ist im Kampf gegen Luigi, gefallen. Seine Mutter starb als er zehn Jahre alt war.

Mein Blick schweift über Jasons Grundstück. Die einst weiße Hauswand hat eine gelbliche Verfärbung angenommen. Sein kleiner Rasen wurde seit Wochen nicht gemäht, Blumen gibt es keine. Irritiert runzle ich meine Stirn. Jason verdient mehr als genug, um sich ein schönes Apartment in der Innenstadt zu kaufen oder zumindest einen Gärtner einzustellen. Allerdings kann ich mir bei Jason gut vorstellen, dass er auf das Aussehen seines Hauses keinen großen Wert legt. Er verbringt ohnehin die meiste Zeit in der Salvatore Villa. Manchmal übernachtet er sogar in seinem Büro, weil er so viele Überstunden macht.

Kurz nachdem das Knarzen von Treppenstufen erklingt, öffnet Jason die Haustür. Er begrüßt uns höflich und bittet uns herein. «Entschuldigt die Unordnung.» Er kratzt sich am Nacken, während er uns den Gang entlangführt. «Seit meiner Krankheit habe ich keine Zeit gefunden, aufzuräumen.»

Die Schränke sind von einer dicken Staubschicht überzogen. Schuhe liegen vor dem Schuhschrank und eine Jacke ist von der Garderobe heruntergefallen. Hastig ergreift Jason die Jacke, um sie wieder hinzuhängen. Mit rosig gefärbten Wangen beichtet er: «Ich dachte, Sie würden erst am Abend vorbeikommen.»
Leandros Blick huscht zu seiner Armbanduhr, die Viertel nach nach Fünf anzeigt. Jason war schon immer etwas verpeilt, allerdings schien es noch schlimmer geworden zu sein. Ob der Tod seines Vaters ihn so aus der Bahn geworfen hat?

«Das Hausmädchen hat ebenfalls vor Kurzem gekündigt», teilt Jason bitter mit. Seine Lippen sind zusammengepresst, sein Kiefer angespannt. «Da bezahlt man ihnen so viel und was bekommt man als Dank? Eine Kündigung, während man todeskrank im Bett liegt!»

Meine Augenbraue wandert nach oben. Eine Grippe würde ich nicht als todeskrank bezeichnen, aber gut. Dennoch verstehe ich seinen Aufruhr. Sehr nett war das von dem Hausmädchen wirklich nicht. «Wieso hat sie denn gekündigt?», frage ich, als wir im Wohnzimmer ankommen.
Das Wohnzimmer sieht etwas aufgeräumter aus, obwohl benutzte Gläser auf dem Tisch stehen sowie sämtliche Papiere und Notizblöcken. Jason eilt zum Tisch und verstaut die Papiere und Blöcke im nächstbesten Schrank. Währenddessen erzählt er: «Ach, nur das alte Geplapper, von wegen ich würde immer alles liegen lassen und würde ihr nicht genug bezahlen.»

Leandros und meine Stirn legen sich in Falten. Wir werfen uns einen raschen Blick zu. Waren das wahrhaftig die einzigen Kündigungsgründe? Was verschweigt Jason uns?

Nachdem er seine Papiere in bereits gut gefüllte Schubladen gestopft hat, wendet er sich mit einem breiten Lächeln, das seine Augen nicht erreicht, zu uns. Mit einer Geste deutet er auf den Tisch. «Ihr dürft euch gerne setzen.» Leandro und ich setzen uns nebeneinander, gegenüber von Jason. Schließlich fragt Jason: «Also, Miss Salvatore und Mister Cassamento, wieso darf ich Sie heute begrüßen?»
«Hat Mayra dich nicht informiert?», frage ich nach.
Nachdenklich runzelt Jason seine Stirn. «Nicht das ich wüsste.»
Knapp nickt Leandro. «Wir sind hier, weil wir weitere Informationen zu Vincenzos Unterlagen in Erfahrung bringen wollen.»

Die Falten graben sich tiefer in Jasons Stirn, als hätte er diese Möglichkeit nicht erwogen. «Ich habe Mayra bereites alles erzählt.»
Ich sage: «Dennoch würden wir gerne noch einmal alles mit dir durchgehen, um sicherzugehen, dass dir nichts entgangen ist.»
Er schluckt schwer. «Ist das ein Verhör?»
Leandro schnaubt. «Wir sind Mafiosi und keine Polizisten!»
Röte kriecht Jasons Hals hinauf. «Entschuldigt die Wortwahl, so war das nicht gemeint.»
Ich winke ab. «Das tut nun nichts zur Sache.»

Leandro kneift seine Lippen zusammen, nickt aber schließlich. «Hiermit erinnere ich dich, dass du als Salvatore Mafiosi Avyanna Salvatore zu absolutem Gehorsam verpflichtet bist. Dies trifft ebenfalls auf mich zu, da sowohl Avyanna wie auch ich Capo dei capi sind. Selbst, wenn du jemanden Omertá, den Code der Stille, geschworen hast, ist dieser vor uns unwirksam. Du bist verbunden, uns die Wahrheit zusagen und keine Informationen vor uns vorzubehalten. Falls du uns belügen solltest, droht die Todesstrafe.»

Jason schluckt laut, als würde ein Kloß in seinem Hals sitzen. Unsicherheit spiegelt sich in seinen Augen, als er nickt.
«Jason, du hast drei Mal an den Durchsuchungen von Vincenzos Räume teilgenommen, stimmt das?» Meine Haltung spannt sich an, während ich warte, ob Jason in die Falle läuft.
Er schüttelt den Kopf. «Vier Mal. Es waren vier Untersuchungen.»

Ich entspanne mich kaum merklich. «Wie kommt es, dass du Vincenzos Unterlagen nicht fandest?»
Jason zuckt mit seinen Schultern, seine Mimik verfinstert sich. «Ich weiß nicht, wie das passieren konnte.»
Leandro hackt nach: «Deine Kollegen behaupten, du hättest jedes Mal gründlich gesucht. Ist das richtig?»
Er nickt. «Das ist richtig.»

Ich lehne mich an die Stuhllehne zurück, verschränke meine Arme vor der Brust. «Wie konnten dann auf einmal die Unterlagen auftauchen?»
Jason beißt sich auf seine Unterlippe, als wäre er unsicher, ob er seine Gedanken aussprechen soll. Er seufzt. «Ich habe keine Beweise, aber ich wette, dass Casper die Unterlagen dort hingelegt hat.»

Ich ziehe eine Augenbraue in die Höhe. «Das sind schwere Anschuldigungen.»
Leandros Finger schnellen unruhig auf die Tischplatte. «Casper wurde erschossen.»
Auf Jasons Gesicht zeichnet sich Schock ab. Unweigerlich spannt sich sein Körper an, sein Atem wird flach, die Farbe weicht aus seinem Gesicht. «Casper ist tot?» Irritiert blicken Leandro und ich uns an. Jason und Casper waren nie Freunde. Im Gegenteil. Sie mögen in der gleichen Familia gewesen sein, doch sie verhielten sich wie Rivalen.

«Scheiße. Scheiße!», murmelt Jason. «Ich werde der nächste sein. Oh, heilige Mafia. Was mache ich bloß? Ich bin geliefert.»

Erneut werfen Leandro und ich uns einen Blick zu. «Jason», versuche ich ihn aus seinen Gedanken zu reißen. «Wieso glaubst du, das nächste Opfer zu sein?»
Jasons hilfesuchender Blick trifft auf meinen. «Wenn er Casper getötet hat, wird er es auch auf mich abgesehen haben.»
Leandro beugt sich nach vorne. «Wen meinst du mir <er>?»
«Vincenzo natürlich!»

«Vincenzo?», wiederhole ich langezogen. «Wieso denkst du, Vincenzo stecke dahinter?»
Jason sieht mich an, als hätte ich ihm gerade erklärt, ich hätte Casper umgebracht. «Wieso ich denke, dass Vincenzo der Mörder ist? Liegt das nicht auf der Hand? Wer soll es sonst gewesen sein?»

Leandro presst seine Lippen aufeinander. Ich lege meinen Kopf leicht schief. Er scheint nichts von Ronaldo Ancelotti zu wissen. Nun stellt sich die Frage, ob er sich so sicher ist, dass Vincenzo dahintersteckt, weil er mit Vincenzo in Kontakt stand oder lediglich, weil es am logischsten erscheint. Ich kratze mir an der Stirn, während ich meine Möglichkeiten abwäge. Schließlich gehe ich ein kleines Risiko ein und verrate ihm: «Was ist, wenn wir eine weitere Spur am Tatort gefunden haben?»

Irritiert starrt Jason mich an. «Was?»
Ein Seufzen weicht aus meinen Lippen. Ich erzähle ihm ungern mehr, allerdings haben wir nicht viele Anhaltspunkte, um an mehr Informationen zu gelangen. «Wir fanden etwas, dass daraufhin weist, dass eine andere Person in Caspers Tod verwickelt sein könnte.»
Mehrere Sekunden bleibt Jason still, starrt uns lediglich verwirrt an. «Wer?»
Leandro antwortet: «Mehr können wir dir nicht verraten.»
«Und wenn ich Omertá schwöre?»
«Auch dann nicht.»
Jason seufzt. «Ich verstehe.»

Ich beuge mich über den Tisch nach vorne, suche Jasons Augenkontakt. Mit eisiger Miene sage ich: «Jason, ich frage dich als dein Boss und als Capo dei capi: Hattest du in den letzten Tagen oder Wochen mit Vincenzo Kontakt?»

«Was? Nein!» Jetzt schüttelt er heftig mit seinem Kopf. «Ich schwöre, ich habe nichts mit Vincenzo zu tun!»

Seufzend lehne ich mich wieder an die Stuhllehne an, kreuze meine Arme vor der Brust und mustere ihn aus zusammengekniffenen Augen.

Eine halbe Stunde später sitzen Leandro und ich in seinem Mercedes. Erst als wir uns gut einen Kilometer von Jasons Haus entfernt haben, sage ich: «Jason lügt.» 

Mafia Romance 2 Where stories live. Discover now