|| 45 || Irrationalität

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Cassian Natale

Sergio ist ein Verräter.

Die Fakten lagen vor mir. Ich wusste es. Deshalb habe ich Urlaub genommen. Nicht nur, weil mein Herz sich anfühlte, als würde es sterben, sondern weil ich meinem Urteilsvermögen nicht länger trauen kann. Ich konnte und wollte nicht glauben, dass Sergio ein Verräter ist. Und das Schlimmste? Ich möchte es noch immer nicht glauben.

In meinem Kopf spinnen sich die Theorien, wieso Sergio das alles getan hat. Eine Theorie nach der anderen wirbelt in meinem Kopf, zieht mich in einen Zog der Irrationalität.

Ich bin kein Mensch der Irrationalität.

Ich habe mich nie von meinen Gefühlen leiten lassen. Ich habe nie meinen Vater zurückgeschlagen. Ich habe nie meine Mutter angeschrien, dass sie Vater verlassen solle. Ich habe nie meinen Gefühlen zu Leandro Aktionen folgen lassen.

Ich habe mich nie von meinen Gefühlen leiten lassen. Bis Sergio in mein Leben trat.

Am königlichen Ball habe ich wegen Sergio Leandro aus den Augen verloren. Im Krankenhaus nach dem finalen Kampf gegen Luigi habe ich Sergio ignoriert, wohlwissend, dass dies unsere zukünftige Zusammenarbeit erschweren könnte und ich ihm nicht ewig aus dem Weg gehen konnte. Ich habe Sergio vertraut und tue es noch immer, trotz all den Fakten, die anderes bezeugen.

Früher war ich mehr Kampfmaschine als Mensch.

Sergio zeigte mir, wie wertvoll Gefühle sein können.
Nun zeigt er mir, wie zerstörend Gefühle sein können.

Ich möchte meinen Blick in Sergios brennen; ihm bewusst machen, wie sehr er mich verletzt; in seinen Augen nach den Gefühlen suchen, die er mir all die Monate vorgaukelte. Doch Sergio sieht mich nicht an. Sein Blick liegt auf Vincenzos, als sehe er mich nicht, als existiere ich nicht.

Habe ich ihm so wenig bedeutet?

«Wieso?» Meine Stimmfestigkeit überrascht mich. Erst jetzt nehme ich die Hitze in mir wahr; die Wut, die in mir brodelt.

Vincenzo lächelt. Man könnte fast meinen er hätte Mitleid mit mir. «Macht, Cassian. Die Antwort, die du suchst, lautet Macht.»
Ich schüttle meinen Kopf. «Das ist nicht die Antwort, die ich suche.» Mein Blick liegt auf Sergio, der weiterhin meine Existenz ignoriert. Ich wünschte, er würde meinem Blick ausweichen aus Scham, aus Feigheit, aus Reue. Jedoch zeigt seine Körpersprache das Gegenteil. Er steht fest und still auf dem Boden, Kinn nach oben, Schultern hinten, Hände hinter dem Rücken. Sein Blick ist klar, frei von Gefühlen. Ich kenne diese Haltung. Das ist meine Bodyguard-Haltung. So stehe ich, wenn alles nach Plan verläuft.

«Was ist dann deine Frage?», zieht mich Vincenzo aus meiner Observation.
«Wieso hat Sergio seine Gefühle vorgespielt? Zu welchem Zweck?» Während diese Worte meine Lippen verlassen, sticht mich etwas ins Herz. Die Realisation. Es auszusprechen, macht es real. Sergio hat es vorgespielt. Ich habe mich in ihm geirrt. 

Sergio zuckt nicht einmal mit der Wimper. Er starrt in die Luft, in die Leere, als langweile ich ihn. 

Vincenzo wirft einen flüchtigen Blick auf die Uhr an der Hallenwand, dann schlendert er zu mir. «Weil du die Kampfmaschine bist.» Er mustert mich von oben bis unten, ergötzt sich an den Fesseln, die sich in meine Haut graben. «Er musste dich ablenken, dein Vertrauen gewinnen. Er musste dich aus der Bahn werfen und dafür sorgen, dass du leidest. So leidest, dass du deinen Aufgaben nicht mehr ausführen kannst.»

Ich knirsche mit den Zähnen. «Wo ist Leandro? Was habt ihr mit ihm gemacht?»
«Nichts. Noch nichts.»

Natürlich. Ich bin die Geißel. Sie locken Leandro hierher, um ihn zu töten und ich bin daran schuld.
Zweimal habe ich Leandro im Stich gelassen. Einmal am königlichen Ball, das zweite Mal jetzt, als ich Urlaub nahm, von einem Job, der kein Urlaub zur Verfügung stellt. 

Mafia Romance 2 Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt