|| 18 || Der Tatort

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Cassian Natale

«Ich kann es noch immer nicht glauben», wiederholt sich Sergio zum zehnten Mal. Sein Blick liegt auf Caspers Leiche, seine Mundwinkel hängen nach unten und auch seine Haltung ist schlaff. Ein Ausdruck der Resignation liegt in seinen Augen, den ich noch nie zuvor bei ihm gesehen habe.

Ich stehe neben ihm, den Kopf gesenkt, um die Leiche genauer zu betrachten. Ich greife nach Sergios Hand, drücke sie leicht. Fünf Detektive der Salvatore Familia sind mit uns in Caspers Wohnzimmer, am Tatort, und suchen nach Spuren.

«Casper war ein guter Kapitän», murmelt Sergio. «Einer unserer Besten.»
Ich weiß, wie es ist, ein Familienmitglied zu verlieren, besonders wenn diese Person eine wichtige Stellung hatte. Ein Tod einer solchen Person ist schwierig – nicht nur für einen selbst. Die ganze Mafia leidet darunter, insbesondere diejenigen, die mit dem Verstorbenen zusammengearbeitet haben. Es ist eine Herausforderung eine Person zu finden, die die Arbeit übernehmen kann. Das kann zu langwierigen Problemen führen, die im schlimmsten Fall dazu führt, dass die Familia einen Platz im Mafia Ranking herunter rutscht. Besonders in gegenwärtigen Zeiten stellt diese Möglichkeit eine ernstzunehmende Bedrohung für die Salvatore Familia dar.

Noch führt die Salvatore Mafia, jedoch ist unsere Familia, die Cassamento Mafia, nicht weit von der Salvatore Familia entfernt. Falls Casper wahrhaftig einen derartigen Einfluss auf die Familia hatte, wie Sergio behauptet, könnte es langwierig zur Folge haben, dass Leandros Familia Avyannas einholt.

Ich sollte mich darüber freuen, sehr sogar, allerdings kann ich es nicht. Falls der schlimmste Fall eintreten sollte, wird Avyanna dadurch ihren Titel als Capo dei capi verlieren. Die Folgen für die Salvatore Familia wären verheerend.

Selbstverständlich würde eine Heirat zwischen Leandro und Avyanna das Problem lösen – oder die Heirat mit Miguel.

Dies wiederum hätte verheerende Folgen für die Leandro und die Cassamento Familia.
Die Lage war ohnehin äußerst problematisch, doch nun nach Caspers Tod ist es eine reine Katastrophe. Ein Dilemma, aus dem es kein Entkommen gibt. Entweder Avyanna oder Leandro wird leiden und mit ihnen ihre gesamte Familia.

Der Kampf gegen Luigi ist gewonnen, doch ein Happy End könnte kaum weiter außer Reichweite sein.

«Es wird schwer werden, ihn zu ersetzen», seufzt Sergio.
Kaum merklich nicke ich. Ich wünschte, ich könnte ihm helfen und beraten, wer der beste Ersatz ist, allerdings kenne ich die Leute in seiner Familia kaum bis gar nicht. Ich kenne nicht einmal alle in der Cassamento Familia. Dafür sind es zu viele Mafiosi. «Kann ich dir irgendwie helfen?», frage ich dennoch.
Sergios Blick huscht zu unseren verschränkten Händen. Ein sanfter Ausdruck tritt in seine Augen, doch als sein Blick wieder zur Leiche wandert, erlischt das Funkeln. «Du hilfst mir schon so viel du kannst.»
«Ich wünschte, ich könnte noch mehr für dich tun.»
Er verstärkt seinen Händedruck. «Ich weiß.»

In diesem Moment ertönt das allzu bekannte Geräusch, wenn ein Auto parkt. «Avyanna und Leandro sind da.» Das Brummen von Leandros Mercedes ist für mich so unverwechselbar wie seine Stimme. «Wollen wir raus und sie vor der Tür abfangen?» Frische Luft würde Sergio vielleicht guttun.

Er nickt und wirft einen letzten wehmütigen Blick zu Casper, bevor wir gemeinsam, Hand in Hand, zur Haustür gehen. Gerade als wir raus gehen, hält Leandro Avyanna die Autotür auf. Meine Stirn legt sich in Falten, als ich die Nähe zwischen ihnen bemerke. Beinahe wirkt es, als wäre das ganze Luigi- und Hochzeitsdrama nie geschehen; als wären sie vereint und glücklich wie eh und je. Doch schlummern eine gewisse Nervosität und Unbehagen zwischen ihnen. Wie eine Schlucht, die mit jeder Minute größer wird.

Mein Herz wird schwer, denn schmerzlich ist mir bewusst, dass ihr Glück nicht für lange sein wird.

Avyanna wird Miguel heiraten. Avyanna wird ihre Liebe vorspielen müssen, wird früher oder später gezwungen werden, Kinder auszutragen. Sie wird jeden Tag in einer Villa aufwachen müssen, die einem Gefängnis kaum mehr ähneln könnte. Sie wird jeden Tag, jede Stunde, jede Minute daran denken, dass es keinen Ausweg gibt. Sie wird nicht nur ihre große Liebe verlieren, sondern auch ihre Freiheit.

Leandro und Avyanna könnten eine Affäre führen, die jedoch beide nicht annähernd befriedigen würde – romantisch bzw. gefühlsmäßig gesehen.

Mit etwas Glück – oder Pech – wird Avyanna Gefühle für Miguel entwickeln und Glück finden. Leandro würde daran zerbrechen. Ich kenne ihn. Er wird niemand anderes finden. Sobald sich auch nur eine Frau ihm nähern wird, wird er sie von sich stoßen. Es wäre nicht auszuschließen, dass Leandro in sein altes Muster zurückfällt und jede zweite Nacht bei anderen verbringt, nur um sein Loch im Herz zu füllen. Ein Loch, das nur von einer Person gefüllt werden kann. Von einer Person, die er nicht haben kann.

Zudem wird Leandro seinen Titel als Capo dei capi verlieren. Nichtsdestotrotz wäre dies für ihn nicht ansatzweise so schlimm, wie der Verlust von Avyanna. Dennoch wird er auch darunter leiden müssen, denn sein Vater und seine Familia wird alles andere als begeistert sein. Es könnte zu Rebellionen kommen.

«Denkst du, Avyannas und Miguels Hochzeit wird ein zweiter Mafia Krieg auslösen?», flüstere ich zu Sergio.
Er zieht seine Lippe sein, so dass sie nur noch eine dünne Linie bildet. «Hegst du noch Zweifel?»
Ich schlucke schwer. Leicht schüttele ich meinen Kopf. Leandro wird nicht ohne Kampf aufgeben.

«Hey», ruft uns Leandro zu, während er zu uns läuft. Avyanna sagt nichts, lächelt nicht. Gerade eben wirkte sie noch gelassen, doch als sie Caspers Haus gesehen hat, hat sich ihr Körper bis aufs äußerste angespannt. Sergio und ich setzen ein kleines Lächeln auf, begrüßen die beiden.
«Was hat so lange gedauert?», fragt Sergio die beiden.
Leandro zuckt mit den Schultern. «Hab mich auf dem Weg verfahren.»
Ich ziehe eine Augenbraue in die Höhe. «Du konntest schon besser lügen.» Leandro wirft mir einen Seitenblick aus zusammengekniffenen Augen zu. Nun bin ich der, der mit den Schultern zuckt.

Auf einmal rennt eine Detektivin der Salvatore Familia aus dem Haus raus zu uns. Sie hält ein kleines Plastiktütchen hoch. Ihre braunen Augen, die dieselbe Farbe wie ihre Haut haben, sind geweitet. Ihre vollen Lippen stehen leicht offen, ziehen schwer Luft ein und aus. Zuerst wendet sie sich an Sergio, aber als sie Avyanna erkennt, dreht sie sich schlagartig zu ihr um. «Miss Salvatore! Wir haben etwas gefunden!»

Avyanna, nun voll bei der Sache, greift nach dem Plastiktütchen, dessen Inhalt ich nicht erkennen kann. «Was ist los, Inaya?» Avyanna greift ihre Augen zusammen, mustert das Tütchen genauer. Sie reißt ihre Augen auf, ihre Kinnlade fällt. Entsetzt huscht ihr Blick zu Inaya. «Ist es-?»
Leandro, Sergio und ich runzeln unsere Stirne. Wieso ist sie so entsetzt? War es etwa nicht Vincenzo?

Inaya nickt heftig. «Ja, ich habe nochmal recherchiert, um sicherzugehen.» Ihre Stimme überschlägt sich. «Ich konnte noch keine Tests machen, aber bisher deutet alles darauf hin, dass es die Echte ist.»
«Die echte was?», hackt Leandro nach.
Avyanna haltet ihm das Tütchen hin, welches Leandro misstrauisch ergreift und selbst genauer ansieht. Avyanna atmet tief ein, bevor sie verkündet: «Die Brosche von Ronaldo Ancelotti wurde am Tatort gefunden.»

«Ronaldo Ancelotti? », ruft Sergio aus. Meine Kinnlade fällt. Leandro scheint seinen eigenen Augen und Ohren nicht zu trauen.
Avyanna nickt. «Miguels Vater war am Tatort.» 

Mafia Romance 2 Donde viven las historias. Descúbrelo ahora