7 - Boxen

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„Da bist du ja endlich!", rief meine Mutter, bevor ich eine Begrüßung murmeln konnte. „Wo warst du?" „Starbucks, Dad hat mich geweckt", antwortete ich und ging an ihr vorbei ins Wohnzimmer, wo Isabelle telefonierte und Max auf dem Sofa lag. Von Dad fehlte jede Spur, er war arbeiten.
Ich hatte so gar keine Lust auf die Ansage, die meine Eltern hatten.
Meine Schwester lächelte mir kurz erleichtert zu, als ich eintrat. Dann widmete sie sich wieder ihrem Gesprächspartner. Max hingegen sprang auf und raste mit erhobenen Fäusten auf mich zu.
Gleich darauf schlug er mich auf die Seite. Nicht fest, aber ich spürte es dennoch. „Au?" „ER HAT GETROFFEN, ER IST DER CHAMPION!", rief mein kleiner Bruder und machte Anstalten, mich erneut zu schlagen. Schnell erhob ich die Hände, damit er auf meine Handflächen eindreschen konnte.
Der Kleine hatte ein Wahnsinnstempo. Das, gepaart mit der Kraft, die er in jeden Schlag legte, sorgte dafür, dass meine Handballen rot waren. Außerdem brannten sie wie Hölle. Doch das war es wert. Denn Max grinste, man konnte ihm förmlich ansehen, dass seine ganzen Sorgen von ihm abfielen.
Ja, so eine Wirkung hat boxen. Auf so ziemlich jeden.
Und Max hatte jeden Grund zur Sorge. Er bekam fast jeden Streit unserer Eltern mit, war der jüngste in unserer Straße und seine beste Freundin hatte Leukämie. Das Mädchen war erst acht Jahre alt, und vermutlich würde es im Laufe dieses Jahres sterben. Wir hatten es Max nicht erzählt, auch wenn er es eines Tages rausfinden würde.
Er hatte es wirklich nicht leicht. Und trotzdem schaffte er es, jeden anzugrinsen und noch immer freundlich zu sein. Zu jedem.
Nicht einmal Clary konnte das, und sie gehörte mitunter zu den freundlichsten Menschen, die ich kannte.
Schließlich ließ Max von mir ab und fiel ermattet auf das Sofa, dabei hatte er nur gut zehn Minuten auf meine Hände eingeschlagen. Man konnte ihm ansehen, dass er noch nicht ganz wach war. Achselzuckend richtete ich mich wieder zur vollen Größe auf, ignorierte meinen schmerzenden Rücken und ging in die Küche.
„Mom?", fragte ich, als ich meine Hände unter dem Wasserstrahl kühlte.
„Ja?"
„Ich, ähm..." Wie soll ich es formulieren?
„Also, Jace und ich haben uns überlegt, zusammen zu ziehen"
Wie erwartet runzelte sie die Stirn.
„Ich dachte, Jace sei mit Clary zusammen? Von einer Beziehung mit dir habe ich noch nie was gehört?"
Gut, das war falsch formuliert.
„Na ja, so weit liegen unsere Unis jetzt ja nicht auseinander..." Sie unterbrach mich: „Nur etwa sechsundzwanzig Straßen..." Ich ließ mich nicht beirren. „Und da wollten wir eben zusammenziehen. Weil es alleine nur langweilig wäre."
„Aha. Und war das Jace' oder deine Idee?"
Oh.
„Na ja, ... Meine."
Jetzt sog sie scharf die Luft ein. Natürlich, schließlich hatte ihr ältester Sohn gerade verkündet, dass er gerne ausziehen würde.
„Bespreche das doch auch mit deinem Vater, okay?" Sie war sauer.
„Warum sollte ich, ich bin achtzehn, Mom, und damit juristisch volljährig. Nur weil ich noch keinen Alkohol kaufen darf heißt das nicht, dass ich noch ein Baby bin und unbedingt behütet werden muss. Ich kann meinen Kopf schon alleine auf meinem Hals tragen. Dann kann ich auch gemeinsam mit meinem besten Freund in eine WG ziehen."
Mom liebte Jace, das wusste ich. Manchmal dachte ich, dass sie ihn mehr liebte als Izzy oder mich. Ich war der stille Sohn, der sich gegen ihren Wunsch, ein Medizinstudium zu beginnen, entschieden hatte, Isabelle war ihre einzige Tochter, und sie liebte es, knappe Outfits anzuziehen, um ihren Körper zu zeigen. Etwas, das in den Augen unserer Mutter ein Verbrechen war.
Vielleicht taten wir diese Dinge genau deshalb. Weil wir unser Leben gerne selbst bestimmen würden.
Und Max? Er war intelligent, aber naiv. Er brachte gute Noten nach Hause, verstand aber ihre Streitigkeiten noch weniger als Iz und ich.
Jace dagegen studierte an der Jay John Kriminaltechnik, hatte einen unfassbar guten Abschluss in der Tasche und beherrschte fünf Kampfsportarten. Außerdem war er höflich, kultiviert und gutaussehend. Nicht, dass ich hässlich wäre, aber mit Jace' engelsgleicher Schönheit und Eleganz konnte niemand mithalten.
Nicht einmal Isabelle, und die war nicht nur eine Naturschönheit, sondern hatte auch einen Körper, der nicht gleich an ein Strichmännchen erinnerte.
Und das einzige, womit ich prahlen konnte, waren Narben an den Knöcheln, die von meinen verschiedenen Phasen der Verzweiflung stammten, in denen ich ohne Handschuhe meinen Boxsack verprügelt hatte.
Vielleicht sollte ich mit Kampfsport anfangen, anstatt Gewichte zu heben und zu boxen. Einfach nur, um einmal den stolzen Blick zu ernten, mit dem meine Mutter immer Jace betrachtete.
Einfach nur, um nicht weiter in seinem Schatten zu stehen. Denn auch wenn ich ihn wie einen Bruder liebte hatte ich keine Lust, weiterhin das unscheinbare Kerlchen hinter der Perfektion zu sein.

Real Life - MalecWhere stories live. Discover now