11 - Trost

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Müde fuhr ich mir mit den Händen durch das Gesicht. Das war nicht mein Tag. Um fünf Uhr morgens hatte sich herausgestellt, dass mein kleiner Bruder eine durch den harten Aufprall seines Kopfes hervorgerufene Amnesie hatte, die Mom aus irgendeinem Grund nicht einschloss. Dad, Izzy und mich hatte er nicht erkannt, genauso wenig wie seine beste Freundin, die ihn besuchen gekommen war.
Wir waren alle am Boden zerstört. Ausnahmslos.
Ein Kaffeebecher aus Pappe tauchte in meinem Sichtfeld auf. Mit eiserner Miene streckte Iz mir das Getränk hin. Dabei fiel mir auf, dass sie weder Ringe, noch Armbänder trug und ihr pinker Nagellack stellenweise abgeplatzt war.
Ihre Hand sah so motiviert aus wie ich mich fühlte.
Dankbar nahm ich den Becher entgegen, und zu meiner Überraschung setzte sich meine Schwester seitlich auf meinen Schoß. Sie war viel leichter, als ich erwartet hatte. Nicht, dass sie sonderlich schwer aussah.
„Für ihn sind wir Fremde", stellte sie seufzend fest, lehnte ihren Kopf auf meine Schulter.
„Sind wir." Bedauernd legte ich meinen Arm um ihren Rücken, zog sie an mich. Sie roch nach Kokosnuss. Das tat sie schon, seit ich denken konnte. Natürlich, schließlich liebte sie Kokos. Ihren Kaffee trank sie mit Kokossirup, sie liebte Kekse mit Kokos, und wenn sie nichts Besseres zu tun hatte trank sie die Milch einer Kokosnuss. Das war genauso typisch für sie wie die Naivität, die Unschuld für Max.
Ich fragte mich, was andere wohl als Typisch Alec bezeichneten. Meine stille Art, die mich in den letzten Monaten beinahe ein paar Freunde gekostet hatte? Die Grüblereien?
Sanft malte ich Muster auf Isabelles Rücken, während wir schweigend unsere Kaffees tranken. Das Koffein tat mir gut, es durchströmte meine Adern und wärmte mich ein wenig von innen.
Mein Handy klingelte, als Izzys Augenlider zufielen. Natürlich öffnete sie sie sofort wieder, und ich verfluchte den Anrufer in Gedanken.
Es war Jace. Natürlich war es Jace. In den letzten drei Tagen hatte ich kein einziges Wort mit ihm gewechselt.
Mit einer Hand bedeutete ich meine Schwester, dass sie aufstehen sollte, mit der anderen nahm ich den Anruf an.
„Hallo?"
„Tu das nicht. Nicht schon wieder", kam es ohne eine Begrüßung zurück.
„Was denn?", fragte ich leise, während ich das Krankenhaus verließ.
„Uns ignorieren. Mich ignorieren."
„Tut mir leid." Und ich meinte es auch so. Während ich geschickt hektisch umherlaufenden Ärzten und hysterischen Angehörigen diverser Patienten auswich bereute ich mein Verhalten in den letzten Tagen zutiefst.
„Du bist mein bester Freund seit ich denken kann, Alec. Ich kenne Max seit seiner Geburt. Denkst du nicht, dass ich das Recht habe, von seinem Unfall zu erfahren? Und dann auch noch von dir, anstatt von Clary, die es von einer hysterischen Izzy hat? Scheiße, Alexander, hast du eine Ahnung, wie weh das tat? Mein bester Freund ignoriert mich, während sein Bruder fast stirbt. Hast du mich über oder so? Dann sag es doch einfach."
Kraftlos ließ ich mich auf eine Bank im Außenbereich des Krankenhauses fallen.
„Nein, nein. Jace, nein! Es ist nur... Ich war durcheinander. Am Boden zerstört. Du hast Max nicht gesehen. Er ist ausgeflippt, als er von der bevorstehenden Scheidung unserer Eltern gehört hat."
Ich schluckte bei der Erinnerung an den Wutausbruch meines Bruders, während die Sonne mich unbarmherzig anstrahlte. Mit geschlossenen Augen sah ich sie direkt an und hoffte, dass sie sich beleidigt verziehen würde.
„Kannst du herkommen?", fragte ich schließlich leise.
Etwa eine Minute lang konnte ich nur die typischen Geräusche des New Yorker Verkehrs durch die Leitung hören, gepaart mit leisen Schritten. Dann legte Jace auf. Einfach so.
„Bin ich bereits. Wollte nur deine Reaktion auf meine Anschuldigungen hören. Du hast übrigens bestanden", sagte plötzlich eine Stimme hinter mir. Ich fuhr herum und stand in der gleichen Bewegung auf.
Schräg neben der Stelle, an der ich soeben noch gesessen hatte, stand Jace. Er grinste mich wehmütig an, während er sein Handy in die vordere Tasche seiner verwaschenen Jeans steckte.
„Hi."
Wortlos fiel ich ihm um den Hals. Dabei war es mir herzlichst egal, ob mich die umstehenden Leute für schwul hielten oder nicht, ich war nun mal verzweifelt. In so einer Situation gingen mir die Meinungen anderer Menschen höchst elegant am Arsch vorbei, wie Izzy zu sagen pflegte. Es zählte schlicht und einfach Jace, der mir mit seiner Umarmung wenigstens vorübergehend bessere Laune schenkte.
Außerdem vertrieb sie die Schuldgefühle, die ich wegen meines Verhaltens ihm gegenüber hatte.
„Wo ist Clary?", fragte ich, als ich mich schließlich von ihm löste.
„Bei Izzy." Mein bester Freund seit Kindertagen ließ sich auf die Bank fallen.
„Also, erzähl mir von Max."
Seufzend setzte ich mich neben ihn.
„Er erkennt mich nicht. Genauso wenig wie Iz oder Dad. Lediglich Mom scheint er zu kennen." Mir fiel auf, wie verbittert ich klang. Doch ich hatte auch jedes Recht dazu, oder nicht? Schließlich war in Max' Gedächtnis lediglich der Auslöser seiner Amnesie geblieben.

Real Life - MalecWhere stories live. Discover now