Kapitel 31

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Als wir gegen Abend endlich bei Marias Haus ankamen, ging ich ohne ein weiteres Wort zu sagen auf Lucias Zimmer. Ich hoffte, dass sie mir nicht nachgehen würde. Ich schloss die Tür hinter mir und lehnte mich erschöpft dagegen. Ich fühlte mich einsam und leer. Ich ließ meinen Blick durch das unaufgeräumte Zimmer wandern. Das Bett war zerwühlt, überall lagen Klamotten herum. Ich schob einige Kleider beiseite und setzte mich auf das Sofa. Ich wollte nicht mehr hier bleiben, doch zu Mum und Peter, dem Trottel, wollte ich auch nicht. So hatte ich mich noch nie gefühlt. Ich fühlte mich heimatlos. Im Moment gab es keinen Ort, an dem ich mich zuhause gefühlt hätte. Ich saß noch immer auf dem Sofa als es bereits begann dunkel zu werden. Als es zaghaft an der Tür klopfte hob ich noch nicht einmal meinen Kopf.

„Jamie, es gibt Abendessen!", sagte Lucia leise während sie das Zimmer betrat.

„Ich habe keinen Hunger.", lautete meine Antwort.

„Komm schon! Maria hat Tacos gemacht, du liebst Tacos!", versuchte sie mich zu überreden.

„Ich habe keinen Hunger!", wiederholte ich meine Antwort. Ich hörte Lucia seufzen.

„Jamie, es tut mir leid, okay?", sagte sie während sie zu mir kam und sich auf die Lehne des Sofas setzte. Ich nickte schwach.

„Ich meine es ernst, es tut mir wirklich leid. Aber ich will nicht, dass Juan dir etwas antut!"

Ich schnaubte. „Was soll er schon tun?"

Lucia wusste, dass ich keine Antwort auf diese Frage wollte. Wir schwiegen eine Weile.

„Du hast übrigens Post bekommen!", wechselte Lucia das Thema. Sie versuchte, fröhlich zu klingeln. Es misslang ihr. Ich kannte dieses Mädchen inzwischen und wusste, wie sie tickte.

„Post?", fragte ich und sah sie an. Sie lächelte schwach während sie nickte.

„Ein großer Umschlag, von der Uni!"

„Wo ist er?", wollte ich wissen.

„Unten. Wenn du mit zum Essen kommst, gebe ich ihn dir!", versprach sie. Ich überlegte kurz, war dann aber doch zu neugierig. Hatte ich etwa eine Zusage bekommen?

Es war ein dicker brauner Umschlag. Jamie Rose Whitmann und Marias Adresse waren darauf abgedruckt. Ich hielt ihn beinahe ehrfurchtsvoll in den Händen. Lag in diesem Umschlag meine Zukunft?

„Na los! Mach schon auf!", drängelte Lucia, die gespannt neben mir saß. Die Tacos vor uns auf dem Tisch waren vergessen, auch Maria beobachtete uns aufgeregt. Ich hob kurz meinen Blick und sah die Frau an, diese nickte mit einem warmen Lächeln auf den Lippen. Ich riss den Umschlag hektisch auf und ließ die weißen Blätter, die darin waren, in meine Hände gleiten. Ich räusperte mich kurz und begann dann laut vorzulesen.

„Sehr geehrte Frau Whitman, wir freuen uns Ihnen mitteilen zu können,...!", begann ich, wurde jedoch sofort von einem lauten Kreischen unterbrochen.

„Du hast es geschafft, Jamie! Du bist drin!", brüllte Lucia und umarmte mich so heftig, dass der Gartenstuhl nachgab und nach hinten kippte. Ein lautes Poltern war zu hören als wir gemeinsam auf dem Boden aufschlugen, Maria schrie ein panisches „Mädchen!" und sprang auf. Lucia und ich lachten jedoch nur, ich bekam überhaupt nicht mit, dass mein Bein irgendwo zwischen den Holzlatten des Stuhls eingeklemmt war.

„Du hast es geschafft!", wiederholte Lucia kreischend während Maria versuchte den Lockenkopf von mir herunter zu ziehen.

„Ich weiß!", antwortete ich euphorisch und atmete auf, als Lucias Gewicht von mir verschwand. Schließlich half Maria auch mir auf die Beine, nachdem sie zusammen mit der lachenden Lucia mein Bein befreit hatte. Sobald wir beide standen, umarmte sie mich noch einmal. Nach dem Sommer könnte ich anfangen. Was mir aber erst nach einer Weile bewusst wurde war, dass ich noch nicht einmal wusste, ob ich hier in Mexiko bleiben würde...

Am Abend saß ich allein im Garten. Ich saß am Pool und streckte die Füße in das kühle Nass. Es dämmerte und die Sonne verschwand langsam hinter den Bäumen und tauchte alles in ein warmes Orange. Die Luft war schwülwarm, sicher würde heute Nacht ein Gewitter kommen. Der Tag war heiß und drückend gewesen. Ich nahm einen Schluck von meinem Wasser, welches in einer Plastikflasche neben mir stand. Lucia war zu Becca gefahren, Maria hatte sich ins Wohnzimmer verkrümelt um ihre Soap anzusehen. Meine Gedanken kreisten natürlich nur um eine Person. Ich hatte keine Ahnung, wo er war. Erneut nahm ich mein Handy, welches ebenfalls neben mir lag, und warf einen Blick darauf. Kein Mensch hatte sich bei mir gemeldet. Meine Mum nicht, Hannah nicht und Chico natürlich auch nicht. Ich seufzte frustriert. Das war doch Scheiße.

„Hey.", diese tiefe, raue Stimme ließ mich zusammen zucken. Ich hatte Chico überhaupt nicht kommen gehört.

„Hi.", murmelte ich und sah ihm dabei zu, wie er sich neben mich setzte.

„Wie geht's dir?", fragte er und ich hob erneut meinen Blick um mich zu vergewissern, dass es tatsächlich Chico war, der da neben mir saß. Er hörte sich unsicher an.

„Gut. Ich habe heute eine Zusage vom College bekommen.", erzählte ich woraufhin er lächelte.

„Ich wusste, dass du es schaffst."

„Hm...", machte ich und senkte meinen Blick wieder.

„Jamie... was mit Juan passiert ist...", begann er, doch ich unterbrach ihn schnell.

„Reden wir nicht darüber."

„Aber..."

„Ich will es nicht hören. Ich habe mich in den letzten Tagen genug gestritten, ich habe keine Lust mehr."

Chico blieb ruhig.

„Wir haben einfach andere Ansichten vom Leben, Chico.", meinte ich schließlich. Die Sonne war gerade hinter den Bäumen verschwunden.

„Und deswegen beendest du es einfach?", fragte er. Diese Frage sorgte dafür, dass mein Herz einmal stolperte. Ich zuckte mit den Schultern, ich wollte jetzt auf keinen Fall zu viel sagen.

„Erklär es mir, Jamie.", forderte Chico. Er musterte mich, was mich noch nervöser machte.

„Ich denke nicht, dass es noch etwas zu erklären gibt.", wich ich ihm aus.

„Du verstehst es nicht! Du hast keine Ahnung, was los war!"

„Ach nein? Du erklärst es mir ja auch nicht!", schoss ich zurück. So brauchte er mir gar nicht zu kommen. Wieder einmal fuhr er mit seinen Händen über sein Gesicht.

„Ich gehe schlafen!", erklärte ich ihm als ich bemerkte, dass ich auch heute keine Antwort von ihm bekommen würde. Es war, wie Lucia gesagt hatte. Er war der Anführer der La Morenas. Das war sein Leben und nicht, einer weißen Blondine die gefährliche Welt der Familias zu erklären.

„Jamie!", er griff nach meinem Arm, als ich gerade dabei war, aufzustehen. „Geh nicht."

„Ich wüsste nicht, wieso ich noch hier bleiben sollte."

Ich hockte hinter ihm, überragte ihn etwas, weil er noch am Poolrand saß. Ich starrte auf das Tattoo, welches aus dem Kragen seines Shirts kam und seinen Nacken bedeckte. Ohne es irgendwie steuern zu können streckte ich meine Hand aus und strich vorsichtig mit meinen Fingern darüber. Ich wusste, dass dort Morena stand, auch wenn ich das Tattoo im Moment nicht ganz sehen konnte. Das war Chicos Leben. Ich war nur die „Vanillebraut", wie die dämliche Schwester im Krankenhaus gesagt hatte, die in sein Leben hinein gestolpert war und Chaos verbreitet hatte. Ich war so konzentriert auf die sanfte Berührung meiner Finger in seinem Nacken, dass ich zurück zuckte, als Chico meine andere Hand nahm und sie zu seinen Lippen führte. Er drückte einen Kuss auf die Handinnenfläche und legte sie schließlich auf seine Wange.

„Du hast es versprochen!", raunte er. Sofort spürte ich die Gänsehaut, die sich überall auf meinem Körper ausbreitete. Ich senkte meinen Blick. Ich hatte ihm versprochen, ihn niemals zu verlassen...

Verschiedene WeltenWhere stories live. Discover now