Alles auf Anfang

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"Für immer und ewig und allezeit", murmelte er.
"Das klingt wie Musik in meinen Ohren."
Glückselig setzten wir unsere Reise in den kleinen, aber vollkommenen Teil unserer Ewigkeit fort …
Dann erwachte ich aus einem Traum.


Moment. Ich wachte auf?

Unzählige Male blinzelte ich, rieb mir mit den Fäusten die Augen, doch nichts änderte deren trübe Sicht. Die feinen Staubpartikel, die ich vor wenigen Augenblicken noch so deutlich gesehen hatte, waren auf einmal unsichtbar. Ich schloss meine Lider, öffnete sie, schloss sie, öffnete sie, immer wieder und wieder, doch nichts geschah. Erst jetzt bemerkte ich, was ich da mit diesen unscharfen Augen sah: einen engen Raum, oder besser gesagt einen länglichen Schlauch, vor mir waren drei Sitzplätze, links neben mir zwei, daneben ein Mittelgang, in dem Frauen mittleren Alters in Uniformen entlang schritten; alles war weiß gestrichen und schrecklich trist. Ich sah nach rechts und blickte aus einem kleinen Fenster in die Wolken, und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich war in einem Flugzeug. Wieso war ich in einem Flugzeug? Noch dazu konnte ich nicht richtig sehen. Das hieß, ich konnte es schon, doch nicht so, wie es sein sollte. 

Das waren meiner Meinung nach zwei gute Gründe, um die Panik, die in mir aufstieg, zu rechtfertigen.

Meine Finger krallten sich in die Armlehnen des unbequemen Sitzes, in dem ich saß, und ich drehte mich nach links. Die beiden anderen Plätze neben mir waren besetzt, doch mit mir völlig fremden Personen. Vorsichtig drückte ich mich ein Stück nach oben, um zu den anderen Reihen spähen zu können, Ausschau haltend nach einem bronzefarbenen Haarschopf. Nichts. Mein Atem wurde keuchender, doch die Luft, die ich einatmete, roch nicht nach Menschenblut oder anderen speziellen Dingen, die ich hier, inmitten von so vielen Leuten, eigentlich hätte wahrnehmen müssen. Sie roch einfach nach … Luft. Mein Herz fing polternd an zu pochen, doch auf die Art und Weise, wie es mir immer Schmerzen bereitet hatte, als Edward mich damals zu meiner eigenen Sicherheit verlassen hatte. 

In mir breitete sich ein stechendes Gefühl von Hilflosigkeit aus. Reflexartig umklammerten meine Arme meinen Brustkorb, damit er nicht zersprang.

Mein Puls vibrierte in meinen Ohren und mir wurde schlagartig bewusst, dass mein Herz gar nicht schlagen durfte. Es sollte dies gar nicht können. Trotzdem schlug es. Dieses verdammte Ding wagte es, einen Laut von sich zu geben. Das war doch alles nicht wahr. Wieso war ich nicht in dem kleinen Häuschen, das mir Esme und die anderen zum Geburtstag geschenkt hatten? Wieso war nicht der Mann an meiner Seite, ohne den mein Leben keinen Sinn mehr hatte? Wieso fühlte sich alles so scheußlich verkehrt und unwirklich an? Das war ein wirklich schlechter Scherz, zu schlecht, um wahr zu sein.

Die Turbinen übertönten meine inneren Schreie und dann hörte ich die Stimme des Bordpiloten aus den Lautsprechern dröhnen.

„Meine Damen und Herren, wir landen in wenigen Minuten in Port Angeles, deswegen bitte ich sie…“, doch mehr nahm ich nicht wahr. Die Tränen brachen ihren Damm und kullerten in riesigen Mengen an meinen Wangen hinunter. Ich fand keinen sinnvollen Grund, um sie zurückzuhalten.

Da war er, der dritte Punkt auf meiner Hilfe-was-war-hier-nur-los-Liste: Ich weinte. Das dufte alles nicht sein, nicht als Vampir! Ich dürfte weder unscharf sehen, noch dürfte mein Herz schlagen oder mein Verlangen nach menschlichem Blut gesättigt sein, von dem ungenügenden Geruchssinn ganz zu schweigen. Ich dürfte nicht in einem Flugzeug nach Forks sitzen, heulen und an meinem Verstand zweifeln! 

Es war unmöglich, dass alles nur ein Traum gewesen sein sollte. Es war zu viel Zeit vergangen, ich hatte gelacht und geweint, glückliche Stunden und Trauer erlebt, ich hatte den Schmerz der Trennung und die Leidenschaft in der Wiedervereinigung gespürt. Ich hatte die größte Liebe, die je von einem Menschen an einen anderen gegeben werden kann, bekommen und gegeben, so etwas konnte doch kein Trugbild sein. Und selbst wenn das alles nur Hirngespinste gewesen waren, so hätte ich mir die vielen unbegreiflichen Dinge niemals selbst ausmalen können … Edwards berauschenden Duft; seine liebliche, sanfte Stimme; die Legenden um die Cullensfamilie; das herrliche Bild von Edward in der Sonne; die Herzlichkeit und die unverdiente Liebe, die ich von Jake geschenkt bekommen hatte; die schönste Nacht in meinem Leben mit Edward auf Esmes Insel; die folgenden Wochen, die mein gesamtes Dasein verändert hatten … Kein normales, menschliches Gehirn konnte imstande sein, sich so viele schmerzhaft tiefe Gefühle einzubilden.

Ich wusste nicht, wem ich eher glauben sollte, meinem Herzen oder meinem Verstand. Also musste ich mir eine dritte Meinung einholen.

Mit zittrigen Händen wischte ich die Tränen aus meinem Gesicht, doch ich wusste nur zu gut, wie ich aussah, wenn ich heulte wie ein Schlosshund: aufgequollen und gruselig. Trotzdem schluckte ich dreimal kräftig, damit meine Stimme nicht brach, zählte bis zehn und wandte mich dann an einen der nahesitzenden Passagiere.

„Ähm, entschuldigen Sie, Sir?“, fragte ich mit gebrechlicher Stimme. Er schaute von seiner Zeitung auf und blickte mich überrascht an, als er in meine durch die Tränen rot gewordenen Augen sah.

„Ja, Ma’am?“

Ich räusperte mich. „Welcher Tag ist heute? Ich meine, welches Datum?“ Meine Frage war sicherlich total bescheuert, doch ich musste sichergehen.

Ja, so wie er mich anstarrte, war sie bescheuert, aber er antwortete nach einigem Zögern: „Der 17. Januar.“

Mein Magen zog sich zusammen. Das war genau die Antwort, die ich erhofft hatte, nicht zu bekommen. Aber es konnte ja jeder Beliebige 17. Januar sein, redete ich mir ein. Jetzt war das Jahr wichtig. 

Ich klammerte mich an den letzten Strohhalm, der mir blieb. „Und welches Jahr?“, fragte ich kleinlaut und unsicher. Er musste mich für völlig Geisteskrank halten.

Das tat er. „Öhm … 2005?“ Es klang wie eine Frage oder ein Vorwurf oder eine Mischung aus beidem.

Ich hatte das Gefühl, mein Herz, das mir ein paar Sekunden zuvor noch aus der Brust springen wollte, wäre plötzlich so starr und leblos wie ein Stein. Meine Augen sprangen mir beinahe aus den Höhlen, ich keuchte, als hätte ich gerade einen Marathon-Lauf hinter mir. Meine Fingernägel krallten sich erneut schmerzhaft in die Lehnen des Sitzes, die Tränen liefen unaufhaltsam schnell, brennende Spuren hinterlassend rannen sie über mein Gesicht. Das letzte bisschen Selbstbeherrschung, welches ich mir für diese kurze Unterhaltung zusammengekratzt hatte, war wie ausgelöscht.

Es war einfach nicht möglich, dass alles nur ein Traum gewesen war. Das war absurd. 
Das Flugzeug landete und gab mir so keine ungestörte Minute mehr, um zu leiden und ein Bad in meinem Selbstmitleid zu nehmen. Als ich nach einer Weile meine Taschen abholte, stand Charlie schon weiter hinten am Ausgang und winkte mir zu. Oh Gott, den hatte ich ja ganz vergessen! Was würde er zu meinem vom Weinen entstellten Gesicht sagen? Er würde sich Sorgen machen, ohne Zweifel, doch er würde an etwas Banales denken … dass ich Sehnsucht nach meiner Mutter hatte oder ähnlichem. Trotzdem wollte ihm alles so einfach wie möglich machen, verschwand also in den Toilettenräumen und wusch mein Gesicht. 

Als ich dann in den Spiegel schaute, war ich nur mäßig zufrieden; meine Haare waren durch das Sitzen und Schlafen zerzaust, meine Augen waren mit roten Ringen unterzogen, meine Lippen aufgesprungen und meine Wangen an einigen Stellen rot gesprenkelt durch die Heulerei. Da ich aber nichts Besseres erwarten konnte, ging ich wieder hinaus und auf Charlie zu.

Er eilte mir sofort entgegen und nahm mir die Taschen ab. Dann drückte er mich unbeholfen mit einem Arm an sich.

„Schön, dich zu sehen, Bells“, sagte er und lächelte. „Du hast dich verändert. Wie geht‘s Renée?“
Ich runzelte die Stirn. An diese Situation konnte ich mich erinnern. Vage, aber ja, sie war da. Und dann kam mir ein Gedanke, der mich augenblicklich zu beflügeln schien. 

Ich würde es testen, würde probieren ob alles so passierte wie in meinem Traum. Und vielleicht konnte ich einiges ändern, wenn mir die Möglichkeiten gegeben wären. Doch ich musste ehrlich zugeben, dass ich mir nach dem langen, schmerzhaften Flug nicht mehr so recht vorstellen konnte, dass es Vampire tatsächlich gab. Ich spürte, dass meine Glaubenskraft nachließ. Und ich hasste mich dafür.

Ich gähnte. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um über fantastische Wesen nachzudenken. Ich sollte mich zuerst darum kümmern, meinen Plan zu verwirklichen. Also, was hatte ich Charlie geantwortet? Hundertprozentig genau musste es sicherlich nicht sein, aber ich würde es versuchen.

„Ähm, Mom geht’s gut. Es ist auch schön, dich zu sehen … Dad.“

So etwas in der Art hatte ich wohl gesagt. Jetzt würde, wenn es stimmte, eine Minute peinlichen Schweigens folgen. Wie klar und deutlich ich mich noch an diese unwichtigen Dinge erinnerte … 
Nachdem er meine Reisetasche in dem Kofferraum seines Streifenwagens verstaut hatte und wir beide im Auto saßen, sagte er wieder etwas, an das ich mich erinnerte.

„Ich hab ein gutes Auto für dich bekommen, ganz billig.“

Ich schluckte heftig, mein Herz rutschte mir in die Hosentasche. Es konnte alles nur Zufall sein, doch an sowas glaubte ich nicht mehr. Ich wusste nicht, ob ich überhaupt noch an irgendetwas glauben konnte. Eines jedoch wusste ich ganz sicher: die nächsten Minuten, Stunden und auch Tage würden mein gesamtes Leben entscheiden. Ich musste mein Bestes geben und durfte nichts unversucht lassen.

Unsicher fragte ich ihn: „Was denn für eins?“ Diese Antwort war so unheimlich wichtig, er würde es niemals verstehen. Gespannt wartete ich ab.

„Genauer gesagt, einen Transporter – einen Chevy.“

Ich hätte aufschreien können vor Glück. Zwar gab es sicherlich eine Menge solcher Autos in dieser winzigen Stadt Forks, doch wie wahrscheinlich war es, dass Charlie ausgerechnet einen Chevy kaufte? Ich musste überlegen, was ich als nächstes fragen würde. In meinem Traum hatte es ihn sehr verunsichert, als ich nach dem Baujahr gefragt hatte, doch das war eine weitere, unheimlich wichtige Information. Also musste ich es anders machen.

„Ich hoffe doch, dass es kein neues Auto ist. Das wäre viel zu viel Geld. Und außerdem würde es nicht lange überleben, bei meinem Glück.“ Ja, das passte.

Er lächelte wieder. „Nein, nein. Erinnerst du dich noch an Billy Black aus La Push?“

Wieder überschlug sich mein Herz in meiner Brust, als der Name von Jake’s Vater und der des Indianerreservats auftauchte. 

Voller Freude antwortete ich falsch. „Ja.“ Ich Dödel.

„Du hast aber ein gutes Gedächtnis“, lachte er.

Ich versuchte zu schmunzeln und nickte; ich war wirklich seltendämlich.

„Naja, jedenfalls“, fuhr Charlie fort, „sitzt Billy jetzt im Rollstuhl und kann nicht mehr Autofahren. Also hat er mir ein ziemlich gutes Angebot gemacht.“ Und erneut jubilierte es in mir. 

„Danke, Dad. Das ist echt lieb von dir! Aber das wäre wirklich nicht nötig gewesen. Ich hätte schon für ein Auto gespart“, sagte ich. Ich war ihm so dankbar; für das Auto und für die Bestätigung, dass ich anscheinend nicht komplett den Verstand verloren hatte.

Auf dem Rest der Fahrt überlegte ich, wem ich von meinem Traum erzählen konnte. So unentschlossen und vage meine Gedanken vor ein paar Augenblicken noch gewesen waren, so sicher war ich mir jetzt. Ich konnte es schaffen.

Ganz oben auf meiner Liste stand Jake. Selbst wenn er mich für verrückt halten würde, selbst wenn er nahe dran sein würde, mich in eine Heilanstalt zu stecken, er würde mich trotzdem gern haben, vielleicht sogar lieben. Das würde passieren, auch wenn die Zukunft nicht so eintreten sollte, wie ich es mir wünschte. Ich legte es einfach fest. Und dann stellte ich mir vor, wie Jake und ich vor einem kleinen, gemütlichen Haus saßen, bei Sonnenuntergang. Vor uns zwei kleine Kinder, ein Mädchen und ein Junge, sie mit braunen, lockigen Haaren, blasser Haut und herzförmigem Gesicht. Er hatte einen rostbraunen Teint, schwarze kurze Haare und ein umwerfendes Lächeln, das jedes Mal seine strahlenden Zähne zeigte … Ich schüttelte den Kopf. Das war Option zwei. Es war unfair Jake gegenüber, doch eines Tages würde er es mir verzeihen.

Je länger ich über diese Sache nachdachte, desto sicherer wurde ich mir, dass ich es auch Alice – wenn es sie gab – erzählen musste. Sie war die einzige, die die Zukunft sehen und mir vielleicht Gewissheit geben konnte. Aber sie müsste mir versprechen, nicht in Edwards Gegenwart daran zu denken. Und ich dürfte es nicht planen, sonst würde sie es sehen und versehentlich daran denken; und was wäre dann? Würde er sie daran hindern, mit mir zu reden, und würde Alice das zulassen? Würde Edward es zu meiner Sicherheit tun, oder weil er mich nicht so liebte, wie ich es brauchte? Zu viele Fragen, entschied ich, und beförderte mich ins Jetzt zurück, in dem Charlie und ich gerade sein Haus erreicht hatten.

Ich war schon zu gut an sein Haus, den Transporter, den Wald neben dem Haus, die Nachbarschaft und die gesamte Stadt gewöhnt, dass ich nicht viel Zeit damit verschwendete, mich umzusehen. Ich umfasste den Türgriff und öffnete die Tür des Wagens, stieg aus und streckte mich. Autofahrten machten mich immer so steif und schläfrig. 

Um nicht undankbar rüberzukommen, nickte ich in Richtung des Transporters und sagte: „Wow, Dad, der ist ja großartig! Danke!“ Ich vermisste schon jetzt die Fähigkeit, unbeschreiblich schnell rennen zu können, oder zumindest das alte Motorrad, welches mir Jake zusammengebastelt hatte, da ich wusste, dass das alte Ding von Auto bald den Geist aufgeben würde. Vielleicht konnte ich ja mal bei diesem Typen vorbeischauen, der sie mir verkauft hatte, möglicherweise hatte ich ja wenigstens in diesem Sinne Glück, wer wusste das schon?

„Freut mich, dass er dir gefällt.“ Charlie war noch nie ein großer Freund von Begeisterung gewesen, und ich kicherte.

Wir gingen ins Haus, Charlie stellte meine Taschen in meinem Zimmer ab und ging wieder nach unten. Dieses Zimmer war mir vertrauter, als es je ein Ort sein konnte – abgesehen von dem Platz neben Edward oder dem kleinen Tadsch ma Hal in Jake’s Garage – und ich fühlte mich sofort wieder ein bisschen wohl. Dennoch war das hier nicht mein zu Hause. Nicht mehr. Der Dielenboden, die hellblauen Wände, die schräge Decke, die vergilbten Spitzengardinen an den Fenstern, das Bett, der Schreibtisch mit dem Computer. Das beinhaltete mein altes Ich mit den alten Erinnerungen. Hier drinnen war es gewesen, als ich das erste Mal neben Edward eingeschlafen war. Hier drinnen waren die vermeidlich verworfenen Dinge versteckt gewesen, die mich nicht an ihn erinnern sollten. Hier drin war einfach alles passiert, und doch so scheußlich wenig.

Denn mein wahres zu Hause, der Platz, an den ich gehörte, befand sich einige Straßen weiter, eine Auffahrt hoch, entlang an dicht nebeneinander stehenden Baumreihen. Dort war ein Haus, das groß und majestätisch auf mich wirkte, mit riesigen Fenstern und Zimmern, die meisten davon eher ungenutzt. Es war das Haus der Cullensfamilie. Darin war alles, was mein Leben bereichert hatte, von Statten gegangen. Ich hatte in diesem Haus gewohnt, als achtes Familienmitglied von eher merkwürdigen Forks-Bürgern. Dort drin war die Abstimmung gehalten worden, die über mein ewiges Leben bestimmt hatte. Alice hatte mich in diesem Schloss als Geisel genommen und mich beschützt, während Edward nicht da gewesen war. Dort drin war ich in den ersten und leider auch letzten Wochen meines Vampirdaseins gewesen. Aber das Wichtigste …

Ich vergaß zu atmen.

Renesmee. Meine Tochter. Nessie.

Ein Schmerz trieb sich in meine Brust, so erbarmungslos und ungehindert, dass mir schwindlig wurde. Ich war ungeheuer froh, dass sich diese Erinnerung erst jetzt in mein Bewusstsein drängte, denn im Flugzeug hätte ich sicherlich hemmungslos geschrien, von Charlies Streifenwagen ganz zu schweigen. Jetzt schluchzte ich und mir blieb die Luft weg. Mir wurde übel, heiß, kalt, alles auf einmal. Sie war die Bereicherung meines Lebens gewesen. Ich hatte sie mehrere Wochen lang in mir getragen, hatte sie schützen wollen, obwohl sie mich des Öfteren beinahe versehentlich umgebracht hätte. Sie war es gewesen, die mich noch stärker mit Edward verbunden hatte. Alle hatten sie geliebt, durch sie waren Werwölfe und Vampire vereint worden und nur deswegen hatten wir auch nur den Hauch einer Chance gehabt, gegen die Volturi zu gewinnen. Das war alles sie gewesen. 
Und jetzt war Renesmee, Nessie, mein kleiner Stupser, nun war sie nicht mehr da. Oder nie dagewesen. 

Tränen tropften erneut von meinen Wangen und Lippen, als ich mit der flachen Hand über meinen Bauch strich. ich spürte die Wölbung, die vor so kurzer Zeit noch da gewesen war, jetzt deutlicher denn je. Ich bildete mir sogar ein, sachte Stöße aus dem Inneren meines Bauches zu fühlen, doch das war unmöglich. Mein kleiner, süßer Stupser – einfach weg, puff, wie eine zerplatzte Seifenblase, wie eine durch den Wind verwehte Wolke, einfach verschwunden. Womit verdammt nochmal hatte ich das verdient? Wieder schlichen sich die Gedanken in den Vordergrund, dass es so werden könnte, Jake und ich, Sonnenuntergang, zwei niedliche Kinder … Aber es konnte auch anders werden, so wie es mir am liebsten war, wenn nicht nur das mit dem Chevy stimmen würde.

Ich wusste nicht, ob es die Sehnsucht war oder die Verzweiflung, doch plötzlich überkam mich der Tatendrang. Ich wollte alles auf einmal tun. Zum Haus der Cullens fahren, nach La Push fahren, mit Alice reden, mit Jake reden, es war alles so verdammt wichtig. Dann fiel mein Blick auf meine immer noch geschlossenen, vollgestopften Taschen und ich entschied, erst einmal auszupacken und gründlich darüber nachzudenken, ob ich ohne Vorwarnung in ein Haus voller Vampire, die nicht auf den Geruch eines Menschen gefasst waren, ganz abgesehen von der Wirkung meines speziellen Duftes, eintreten sollte.

Die Möglichkeit, ich könnte mir alles nur eingebildet haben, stand für mich nicht mehr zur Debatte.

Bis(s) zum Erwachen - Wie ein Déjà-vuWhere stories live. Discover now