Geschwisterliebe

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Selbst im Zorn sah er himmlisch aus.

Seine tiefschwarzen Augen richtete er auf mich, dann auf Alice. Seine Haltung war angespannt, die Hände hatte er zu Fäusten geballt, sodass die Knöchel unter der gläsernen Haut hervortraten. Ich konnte beobachten, wie er seine Zähne mit einer Kraft aufeinander presste, die Granit hätte sprengen können. Das Knurren, das tief aus seiner Brust kam, erfüllte den Raum mit einer gefährlichen Stimmung. Als er sprach, war seine Stimme verzerrt vor Wut und Entsetzen.

„Was soll das, Alice?“ Edward setzte jedem Wort sein volles Maß an Zorn bei.

Alice und er sahen sich eine Weile lang nur an und ich verfolgte Edwards wechselhaftes Mienenspiel. Es dauerte ein paar Minuten, bis ich verstand, dass sie nur in Gedanken mit ihm sprach.

„Findest du nicht auch, deine kleine Freundin sollte wissen, was du mir sagst?“, meinte er plötzlich und sah für einen kurzen Moment in meine Richtung.

„Wie oft muss ich dir eigentlich noch sagen, wie sie-?“

„Meine Güte, dann eben Bella“, zischte er drohend.

Alice schaute ihn finster von oben bis unten an. „Das klingt schon besser.“

„Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass es sie sicherlich auch interessieren würde“, wiederholte er und blickte wieder zu mir. Und der Hass, den sein Blick erfüllte, trieb mir Tränen in die Augen. Das war doch alles nicht wahr. Zwar wusste er nichts davon, wie weh mir jeder seiner wütenden Blicke tat, woher auch, aber trotzdem war das alles nicht gerecht. Was hatte ich schlimmes getan, dass ich so etwas verdiente? Ich wusste es nicht, ehrlich. Ich wusste nur, wie groß der Schmerz war, der sich jetzt immer tiefer in mich bohrte.

Alices finsterer Blick wurde für einen kleinen Moment zweifelnd. „Ich weiß nicht …“, begann sie, schaute kurz zu mir und ich vermutete, dass sie diesen angefangenen Satz zu Ende dachte.

Wieder wurde es still, mein Herzschlag dröhnte mir in den Ohren. Ich versuchte zu schlucken und merkte, dass sich ein großer Kloß in meinem Hals gebildet hatte, der mir die Kehle austrocknete. Leise schnappte ich nach Luft, ohne dass es einer der beiden mitbekam. Ich spürte, wie sich der Sauerstoff durch meine Luftröhre brannte und schwer in meinen Lungen lag, als er dorthin gelangte. Jetzt war mir tatsächlich übel und der Raum begann, sich langsam zu drehen. 

Ich sah zu, wie Alice Edward anstarrte, mal wütend, mal bittend. Und ich sah, wie der Zorn langsam aus seinem Gesicht wich, wenn auch nicht vollständig. Vorsichtig und zaghaft schlich sich Hoffnung in mein Bewusstsein, obwohl ich wusste, wäre sie vergebens, würde es mich zweifelsohne den Verstand kosten. War es überhaupt gesund für mich, zu hoffen? War es mir erlaubt?

„Alice, du lügst“, durchbrach Edwards seidige Stimme das Schweigen. Er war wieder sauer. „Auch wenn ich deine wahren Gedanken nicht lesen kann, weil du schon zu gut darin bist, mich zu täuschen; ich sehe es, wenn du lügst.“ Dann zeigte er auf mich. Es wirkte herablassend und ich war mir sicher, er würde niemals auch nur erahnen können, wie weh diese so banale Geste mir tat. „Du kannst mir nicht erzählen, dass dieses Mädchen nur eine Freundin von dir ist, also bitte. Verkauf mich nicht für dumm!“

Ihre Stimme war nur ein Zischen. „Ich dachte, ich soll nicht lügen? Es ist die Wahrheit und die passt dir nicht, das ist alles.“

Ihre Augen huschten zu mir, sahen mich eine Weile lang an und je länger sie auf meinem Gesicht hafteten, desto wärmer wurde ihr Blick. Ich sah in ihrem Ausdruck, dass sie Hoffnung schöpfte – oder für mich so tat, als gäbe es welche, damit ich nicht wahnsinnig wurde. Eine nette Geste, aber völlig überflüssig. Gleichzeitig schauten wir in Edwards allzu perfektes Gesicht und mir wurde wieder einmal schmerzhaft bewusst, warum mein Traum niemals der Realität entsprechen könnte. Obwohl er mir darin so oft beteuert hatte, wie wundervoll, wie vollkommen, wie unbezahlbar ich war, konnte ich mir jetzt nur schwer vorstellen, dass es so sein würde. Denn das wäre nur fair und, seien wir mal ehrlich, das Leben wurde nicht dazu gemacht, fair zu sein.

Bis(s) zum Erwachen - Wie ein Déjà-vuWhere stories live. Discover now