Zu weit gedacht [Alice Cullen]

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Meine Mauer war durchbrochen.

Eigentlich hatte ich sie gut gehütet, immer darauf geachtet, ja nicht an Situationen zu denken, die Bella in Schwierigkeiten bringen könnten. Ihn brachte es jedes Mal zur Weißglut, wenn ich an banale Dinge wie ein Blumenbeet oder den Himmel dachte, um meine anderen, weitaus tiefgründigeren Gedanken vor ihm zu verbergen. Zwar begann mein Schutzwall das ein oder andere Mal zu wackeln und wanken, drohte aber ganz sicher nie, zu zerbrechen oder einzustürzen. Edward wartete manchmal darauf, dass ich nicht genug Obacht gab und ein Schlupfloch für seine Spioniergänge offenhielt, doch ich kam ihm jedes Mal vorraus.

Doch plötzlich war alles ganz anders. Unvorsichtig hatte ich mich meinen Visionen hingegeben und vergessen, mich auf die Abschirmung zu konzentrieren. Das Ergebnis lag jetzt auf unseren Gesichtern zu lesen.

Bella sah mich mit vor Schreck geweiteten Augen an, ihr klappte der Mund auf und sie stieß einen entsetzten Laut aus. Flehend blickten ihre schokoladenbraunen Augen in meine Goldbraunen, hoffend, es wäre nicht so, wie sie dachte. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich ihre zitternden Hände, wie sie auf ihren Oberschenkeln lagen und sich ab und zu ihre Fingernägel in den Jeansstoff bohrten. Ich war unfähig, mich auch nur einen einzigen Zentimeter zu bewegen, Bellas entrüsteter Anblick trieb mir scharfe Speere in die Magengegend.

Nur ungern wandte ich meine Augen an Edward. Zuerst zeigte er keinerlei Reaktion. Seine Körperhaltung hatte sich nicht verändert, noch immer lag sein linker Arm schlaff um Bellas Schultern, den anderen hatte er in seinen Schoß gelegt. Mich überflutete der Gedanke, er habe vielleicht doch nichts bemerkt und meine Sorge sei umsonst, aber hatte ich dann nicht trotzdem schon viel zu viel darüber gegrübelt, wenn auch nur für wenige Sekunden? Die Enttäuschung schlug mir eiskalt und hart ins Gesicht, als mich seine vor Wut schwarzen Augen bitterböse von oben bis unten betrachteten, sein Kiefer sich anspannte und er seinen Arm hinter Bellas Rücken hervorzog. Ich musste kein mentales Genie sein um zu erkennen, dass er mich in Gedanken des Mehrfachen in kleine Stücke zerriss und ins Feuer warf. Ins innere Feuer, fügte ich in meinem Kopf hinzu.

Eine betretene Stille legte sich über unsere Gemüter, der Wind flüsterte leise und sacht, drang durch die offenen Fenster und wirbelte ein paar Blätter in sich. In der Ferne hörte ich Büsche rascheln und Vögel zwitschern, vielleicht waren sogar ein paar Raubtiere unterwegs, den schweren Schritten nach zu urteilen. Eigentlich wollte ich nicht an etwas anderes denken, jetzt da es sowieso zu spät war, doch mir fiel es nicht leicht, einzusehen, dass unsere Bemühungen zunichte gemacht worden waren. Bella neben ihm schien vollkommen am Ende zu sein, aufgebracht polterte ihr Herz in ihr und trieb ihre Atemzüge an, noch heftiger und schneller hervorzustoßen. Edward dagegen sog nicht einen Hauch Luft ein.

Ein Knurren drang aus seiner Kehle. „Das ist nicht dein Ernst, oder?“

Meine Visionen waren nur Erscheinungen, die meisten bestanden einzig aus ein paar Bildern, die sich verwirrend eng ineinander fochten. Die Wenigsten meiner Einblicke in die Zukunft entpuppten sich als richtige Filme oder Ausschnitte aus kommender Zeit. Meist entsprachen sie der Wahrheit, doch ich lernte schnell, mich nicht gänzlich auf sie zu verlassen. Sie konnten einen täuschend echt trügen.

„Du weißt, wie instabil diese Visionen sind. Sie sind subjektiv und stehen nicht fest, man kann sie jederzeit ändern oder manipulieren“, erklärte ich ihm seine eigenen Worte, die er mir nicht selten an den Kopf geworfen hatte. Meine Stimme blieb ruhig und bestimmt. Ich wollte nicht aus der Haut fahren, nicht vor Bella.

„Das also verheimlichst du mir.“ Es war eine Feststellung, keine Frage. „Warum?“

Ich lachte auf. „Und du fragst noch, warum? Du kannst mir nicht weißmachen, dass du entspannt geblieben wärst, hätte ich dir davon erzählt.“

Unwillkürlich nickte er. „Stimmt wohl. Aber wieso hast du es mir ebenfalls verschwiegen, Bella?“

Sein Blick richtete sich auf sie. Ihre Haltung hatte sich noch nicht verändert, stocksteif und angespannt saß sie da, die Finger womöglich schmerzhaft in ihre weiche Haut gegraben, die Augen starr auf einen Punkt hinter mir gerichtet. Sie sah ihn nicht an, noch antwortete sie ihm, Bella blieb einfach stumm und reglos.

„Sie wird dir nicht antworten“, murmelte ich leise.

Edward schnaubte. „Dir glaube ich eh nichts mehr.“

„Und das nur“, fuhr ich ihn lauthals an, „weil ich nicht wollte, dass du ihr Vorwürfe machst? Rede dich jetzt ja nicht heraus, ich weiß hundertprozentig, dass du ihr etliche Male erklärt hättest, dass es unmöglich war, auch nur daran zu denken, und sie abgewiesen hättest. Vielleicht hätte Bella einfach nur genickt und wäre dann um die nächste Ecke verschwunden und hätte sich die Seele aus dem Leib geweint, nur um dir nicht zeigen zu müssen, wie weh es ihr tat, so etwas zu hören. Weißt du was, Edward Cullen?“ Ich musterte ihn zornig.

Er reckte sein Kinn vor.

 

„Du bist eine der selbstsüchtigsten Kreaturen, die ich jemals zu Gesicht bekommen habe.“

Bis(s) zum Erwachen - Wie ein Déjà-vuWhere stories live. Discover now