Worte und ein Ausrutscher [Edward Cullen]

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Was hatte ich gesagt?

Ich versuchte, noch einmal alle Details des Gespräches Revue passieren zu lassen, doch mir viel nichts auf, was sie so derartig wütend, geschweige denn traurig gemacht haben könnte. Alle Worte suchte ich einzeln nach Nebenbedeutungen ab, doch nichts ergab für mich einen Grund für sie, so zu reagieren. Also war es lächerlich. Oder, war es das tatsächlich? Dachte ich vielleicht falsch? 

Um ein Mädchen wie diese Bella zu verstehen, musste ich womöglich anders an die Sache rangehen. Sie war außergewöhnlich, denn wäre es nicht so, würde Alice nicht so einen Aufwand um sie herum machen, das wusste ich ganz sicher. Vielleicht konnte ich Bellas Gedanken gerade weil sie so besonders war nicht lesen? Bei meiner Schwester war es die pure Sturheit, die mir ihre Gedanken unleserlich machten, doch bei ihr … da war gar nichts, null Komma nichts, einfach ein leeres Feld im Land.

Das Mädchen hatte mir ihre kurze Lebensgeschichte erzählt, sicherlich nicht bis hin zur kleinsten Kleinigkeit, aber doch so, dass ich ihr Leben, bevor sie hierher kam, ungefähr kannte. Ich hatte herausgefunden, nur durch die kleinen, simplen Worte ‚Spielt das eine Rolle?‘, dass sie selbstlos war, dass sie nicht im Mittelpunkt ihrer Welt stand, sondern dass die anderen Menschen, die sie liebte, für sie erstrangig waren. Sie schien ein nettes Mädchen zu sein, hörte sich immer Jessicas Geschichten über Jungs an, obwohl ich ihr ansah, dass sie es nicht unbedingt wissen wollte, war geduldig mit allen Personen um sie herum. Dieses Mädchen war einfach nur gut, eine andere Beschreibung kannte ich nicht. Und, um nicht zu vergessen, ihre beste Freundin war ein Vampir. Und sie wusste es. Und sie rannte nicht weg deswegen. Ja, dieses Mädchen war eindeutig außergewöhnlich, sicher auch einzigartig.

Ich stockte meine Gedankengänge. Wie dachte ich denn von ihr? Einzigartig, als wäre sie das einzige Mädchen auf der Welt. Ich schüttelte diese Gedanken ab und versuchte mich wieder zu konzentrieren. Aufmerksam schien sie auch zu sein; als ich gerade darüber nachdachte, was sie mir verheimlichte, was ich nicht wissen oder erahnen durfte, hatte sie mich gefragt, woran ich dachte. Wusste sie deswegen, was wir waren? Weil sie so gut aufpasste und beobachtete? Etwas anderes konnte ich mir nicht vorstellen, woher sollte sie es sonst wissen? Alice würde es ihr niemals erzählen. Aber reichten denn die Dinge aus, die sie mit ihren trüben Menschenaugen sah, um uns als Vampire zu enttarnen? Und wenn ja, war es das, worüber Alice und sie gesprochen hatten, an dem ersten Tag des Mädchens an unserer Schule? Als Alice aus der Cafeteria gestürmt war, zu Bella? Es ergab alles keinen Sinn, und doch war es für mich die einzige Erklärung.

Und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich wundere mich nur … Alice und du …ich meine, da muss doch noch mehr sein in deinem Leben als das, was sie beeindruckt.

Natürlich! Anstatt zu merken, dass ich nur ihrem Geheimnis auf die Schliche kommen wollte, dachte sie, ich fände sie langweilig, öde, nicht nennenswert. Das war es gewesen, was ihr Fass zum Überlaufen gebracht hatte, diese Worte waren der letzte Tropfen gewesen. Sie war einfach hinausgestürmt, ohne noch ein Wort mit mir zu sprechen oder mich etwas sagen zu lassen. Anscheinend war sie sehr sauer. Oder sehr traurig. Wahrscheinlich beides, ich wusste es nicht. 

Obwohl es absolut nichts zur Sache tat, machte ich mir jetzt Sorgen darum, ob ich sie sehr verletzt und ihr sehr weh getan hatte mit dem, was ich gesagt hatte. Doch ich wusste ja noch nicht einmal, wieso es ihr hätte weh tun sollen. Sie kannte mich noch nicht einmal, wir hatten uns nur flüchtig gesehen und ein paar Worte gewechselt, mehr war da nicht gewesen. Meine Schwester war mit ihr befreundet, sogar ziemlich eng, wie es schien, doch mich und sie verband deshalb trotzdem nichts. 

Dieser Dinge war ich mir jetzt sicher, ich wusste jetzt, wieso sie auf einmal verschwunden war, alles war gut. Ich musste mir keine Gedanken mehr um Bella machen.

Aber wieso ging sie mir trotzdem nicht aus dem Kopf?

~~~~~***~~~~~

Als ich ihr Zimmer betrat, klatschte mir wieder das Bild der grünen Frühlingswiese entgegen. 

Alice saß an ihrem Computer, was einerseits ungewöhnlich war, andererseits aber auch nicht; es kam immer darauf an, was sie daran tat. Sie schien mich nicht zu hören, denn sie klickte und tippte munter weiter, selbst als ich direkt hinter ihr stand. Es wunderte mich, dass sie mich nicht kommen gesehen hatte, doch sie war wahrscheinlich sehr vertieft in das, was sie da gerade suchte. Als ich erkannte, was genau es war, blieb ich wie angewurzelt stehen. Sie drehte sich immer noch nicht um.

Auf dem Bildschirm waren Kleidungsstücke abgebildet. Insofern nichts Ungewöhnliches für sie. Aber diese Kleider, T-Shirts, Röcke und Pullover würden ihr eindeutig nicht passen, es waren Kleinkindergrößen. Sie hatte mehrere Seiten geöffnet, deswegen sah ich, dass sie auf einer anderen Klammotten für Teenager durchsuchte. Alle Stoffe waren entweder rosa, violett oder weinrot, einige sahen sogar sehr hübsch aus, doch was wollte sie damit? Soweit ich wusste, konnten Vampire keine Kinder bekommen, der Grund, weswegen Alice, Jasper, Rosalie, Emmett und ich adoptiert waren, also was zum Teufel hatte sie damit vor?

„Alice?“

Ruckartig wandte sie den Kopf und sah mich mit vor Schreck geweiteten Augen an. Ich sah ihr an, dass sie fieberhaft überlegte, wie sie jetzt reagieren sollte. Ich wartete darauf, dass sie sich mir wieder verschloss, doch als nichts dergleichen geschah, drang ich seit einer Ewigkeit wieder tiefer in ihre Gedanken ein und was ich fand, verschlug mir den Atem.

Anstatt dem Frühlingsbild, das sie seit einiger Zeit als Barriere benutzte, konnte ich jetzt ein Mädchen betrachten, nicht älter als ein oder zwei Jahre. Ihr glänzendes bronzefarbenes Haar kringelte sich über ihren Schultern, ihre leuchtenden schokoladenbraunen Augen sahen mich mit einem Interesse an, das alles andere als kindlich war. Ihre Haut war blass, doch ihre Wangen gerötet. In ihren Gesichtszügen erkannte ich etwas Vertrautes, konnte es aber nirgends einordnen. Zweifelsohne war dieses kleine Wesen das hübscheste und vollkommenste Kind, das ich je zu Gesicht bekommen hatte. In Alices Gedanken hob sie eine zierliche Hand und es sah aus, als würde sie sie nach mir ausstrecken.

Als ich sprach, war es nur ein leises Flüstern. „Wer ist sie?“

Sofort verschwand das Mädchen und zurück kam die Frühlingswiese mit ihren Blumen und Düften. „Meine Nichte.“

„Du hast gar keine Nichte“, schnaubte ich.

„Aber bald.“

„Was zum …?“, fing ich an, wusste aber nicht, was ich sagen sollte. Ich war tatsächlich verwirrt.

Alice fing an zu lachen, als sie mich ansah. „Das ist wirklich ein Bild für die Ewigkeit, im wahrsten Sinne des Wortes. Wenn du jetzt dein Gesicht sehen könntest, du würdest dich auf dem Boden wälzen vor Lachen, das schwöre ich dir!“

„Nur leider finde ich das alles hier gar nicht witzig.“

Sie legte den Kopf schief. „Wieso nicht?“

„Weil du ein Bild von einem Mädchen in deinem Kopf hast, von der du sagst, es sei deine Nichte, obwohl das schier unmöglich ist. Du suchst im Internet nach Kleinkinderklamotten und gleichzeitig nach Kleidung für Teenager. Was ist daran bitte so lustig?“ Jetzt wurde ich langsam wirklich wütend.

„Alles“, sagte sie. „Und dein Gesicht mit eingeschlossen.“

Das musste ich mir nicht länger anhören, entschied ich und wandte mich zur Tür. Ihre trällernde Stimme hielt mich noch ein letztes Mal auf.

„Ach ja“, sagte sie, es klang fast wie Gesang. „Vergiss nicht, bald ist der Frühjahrsball. Lade doch Bella ein, ich bin mir sicher, sie würde sich freuen.“

Die Tür drohte aus den Angeln zu fallen, als ich sie hinter mir zuknallte.

Bis(s) zum Erwachen - Wie ein Déjà-vuWo Geschichten leben. Entdecke jetzt