Mitternachtsgespräch

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„Alice?“

Meine Vermutungen hatten sich bestätigt. Sie hatte alles gesehen, von dem nächtlichen Ausflug in den Wald, der uns eigentlich zu Edwards Lichtung führen sollte, bis hin zu dem brennenden Häuschen, vor dem Jake und ich saßen, nachdem er mich gerettet hatte. Ich war mir sicher, dass sie bescheid wusste, auch wenn sie noch nichts davon gesagt hatte; sie war dementsprechend wütend, es war also nicht schwer zu erraten. Viele der Fragen, die mich schon letzte Nacht geplagt hatten,  kreisten mir jetzt durch den Kopf, doch ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen würde ich nicht so schnell zu Wort kommen.

„Kannst du dir auch nur annähernd vorstellen“, zischte sie zornig, „was ich durchmachen musste, letzte Nacht?“

Schweigend schüttelte ich den Kopf.

„Sei froh.“ Sie schnaubte verächtlich. Dann setzte sie sich neben mich, die vernichtende Wirkung ihres Blickes ließ nicht einen Augenblick nach. „Hast du eine gute Erklärung für das alles?“

Ich holte tief Luft. „Also, Jake und ich waren da im …“, doch weiter kam ich nicht, denn sie schnitt mir das Wort ab.

„Beantworte einfach nur meine Frage. Ja oder nein?“

Oh Gott, war Alice sauer! Ich schluckte bedächtig. „J-ja.“

„Gut.“

Sie schloss die Augen, und einen Moment lang dachte ich, sie lauschte wieder einer ihrer Visionen, doch als sie sie wieder öffnete, war der Zorn verschwunden. Fragen über Fragen waren dagegen in ihnen zu entdecken.

„Dann sag mir bitte mal als erstes“, flüsterte sie, „wieso du bei Einbruch der Dunkelheit auf die Idee kamst, diese Lichtung aufzusuchen.“

Verwundert starrte ich sie an. „Du bist nicht mehr sauer?“

Energisch atmete sie aus. „Nein. Das würde mir nichts bringen.“

„Was?“

„Es bringt mir nichts, wenn ich dich in die Luft schlage, indem ich wütend auf dich bin“, sagte sie leise. „Dann bekomme ich nie das, worauf ich es mit diesem ganzen Drumherum um dich und Edward abgesehen habe.“

Ich senkte den Blick. „Und … worauf hast du es abgesehen?“ Als sie das gesagt hatte klang es sehr eigennützig. Und ich hatte geglaubt, sie täte das meinetwegen.

Ihre Stimme wurde endlich wieder samtweich, als sie antwortete. „Du Dummerchen. Darauf, dass du glücklich wirst.“

„Ach so.“ Das hörte sich schon tausendmal besser an.

Dann lächelte Alice und schüttelte den Kopf, sodass ihre kurzen schwarzen, wilden Haare hin und her wehten. „Also, was war der Grund für diese Aktion?“

Ja, was war eigentlich der Grund gewesen? Einen Moment lang musste ich nachdenken. Gab es denn überhaupt einen nennenswerten, akzeptablen Grund? Langsam wägte ich alles ab. Ich hatte mich vergewissern wollen, dass dieser wunderschöne, traumhafte Platz nicht nur eine Ausgeburt meiner Fantasie war, sondern Realität. Wollte wissen, ob ich die verschiedenen Blumen riechen, die frische, nach Gras duftende Wiese auf der Zunge schmecken und das Rauschen der Bäume und Äste, behangen mit Blüten und Knospen hören konnte. All das wollte ich wahrhaben, wollte den Beweis auf der Hand liegen haben und alles detailliert vor meinen Augen sehen können. Und ein kleiner Teil in mir, kleiner als es mir meine Vorstellungskraft ermöglichte, hatte vielleicht auch gehofft, ihn dort zu sehen, obwohl es mehr als nur unwahrscheinlich gewesen war – es war einfach unmöglich gewesen. Diese Wendung war einfach zu schön und fair für mich, mein Leben und alles, was sonst darum passierte.

Und dann sah ich es vor mir, wie es hätte sein können, hätte ich all die Geschehnisse und Personen in meiner Traumwelt gelassen. Es gäbe keine Alice oder Rosalie, Jasper, Emmett, Carlisle, geschweige denn Esme oder Jacob. Aber am schlimmsten war die Vorstellung, ohne Edward und Nessie zu sein. Die Welt ohne sie erschien mir trist, trüb und grau, einfach nicht bemerkenswert, ohne jeden Hauch von Schönheit oder Vollkommenheit, da wäre einfach nichts mehr gewesen. Selbst wenn niemand gegangen wäre, alles in diesem kleinen Städtchen so geblieben wäre wie bis vor meiner Ankunft, für mich wäre sie leer gewesen, und meine Welt, in der die Menschen um mich und nicht ich selbst im Mittelpunkt standen, wäre von einem schwarzen, alles aufsaugenden Loch verschlungen worden. Für nichts gäbe es einen Grund, alles wäre zwecklos, ohne jeden Sinn.

Bis(s) zum Erwachen - Wie ein Déjà-vuWhere stories live. Discover now