Es wird niemals so weit kommen

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Wieder zog die Gewalt der Stille über uns hinweg.

Ohne Gedanken lesen zu können wusste ich, dass Alice ein Bild unserer, meiner und Edwards, Hochzeit entwischt und auf direktem Wege in seinem Kopf aufgetaucht war. Ich war ihr nicht böse, denn eigentlich konnte ich nur von Glück reden, dass sie es bis jetzt geheim gehalten hatte, doch trotzdem wuchs meine Enttäuschung ins Unermessliche.

Alice hatte sich von ihrem Platz mir gegenüber erhoben, ihre Körperhaltung strahlte eine undurchdringliche Abwehr aus. Ihre Augen ruhten auf Edward, der ebenfalls aufstand und sie mit stechenden Blicken durchbohrte. Die geladene, unangenehme Spannung, die sich zwischen ihnen aufbaute, machte sich schon kribbelnd und elektrisierend auf meiner eigenen Haut breit. Unfähig, irgendetwas zu tun, geschweige denn auch nur einen Finger zu heben oder einen Knochen zu bewegen, saß ich da und lauschte dem lauten Wortgefecht.

„Ich bin also selbstsüchtig, ja?“, fragte Edward. Seine Stimme bebte.

Alice gab ihm keine Antwort.

Er lachte sarkastisch auf. „Als ob ich mir das anhören müsste. Hast du auch nur ein einziges Mal daran gedacht, wie es mir gehen könnte, so von dir verstoßen zu werden? Immerhin bist du meine Schwester und das ist das erste Mal seit Wochen, dass du überhaupt mit mir redest.“

„Du warst ja weg.“ Mehr sagte sie nicht.

„Auch seit meiner Rückkehr behandelst du mich wie Luft, meidest meine Gegenwart als wäre ich ein Parasit.“

Ihre Augen waren leer, als sie in sein Gesicht blickte. „Wie wichtig ist Bella dir?“

Ihre Stimme klang mechanisch, so als wäre es nicht sie selbst. Mich erschütterte ihre Frage einen Moment lang, doch dann wartete ich genau wie sie begierig darauf, dass er antwortete. Einen Augenblick schien er zu überlegen, dann runzelte er die Stirn.

„Du lenkst vom Thema ab.“

„Und du weichst meiner Frage aus.“

„Was hat Bella denn jetzt damit zutun?“

Alice schnaubte. „Hast du es dir nicht gut genug angeschaut?“

„Sagtest du nicht“, konterte er, auch seine Stimme verlor den Bereich des Ruhigen, „deine Visionen seien subjektiv? Warum also sollte ich mir darüber Gedanken machen?“

„Weil es möglich ist“, schrie sie verärgert.

„Aber viel zu gefährlich“, rief er zurück.

Alices Augen sahen mich kurz an. „Ist es jetzt weniger gefährlich als später?“

„Wird es ein später geben?“, flüsterte er ihr zu, doch ich hörte seine Worte deutlich genug, um ihre Bedeutung auszumachen. Sofort stieg wieder die Angst in mir hoch, verlassen zu werden. In mir schrie eine Stimme „Nicht noch mal!“, doch sie brach nicht aus mir heraus. Stattdessen schwang ich mich mit einer ungeschickten Bewegung nach oben und ging mit schnellen Schritten auf die Tür nach draußen zu.

„Wo gehst du hin?“, rief mir Edward nach.

Meine Antwort konnte er in dem Zuknallen der Tür ablesen, wenn er wollte.

Damit rechnend, dass er jeden Moment hinter mir stehen würde und mich dazu bringen wollte, zurück ins Haus zu kommen, stapfte ich in den Wald und spürte die niedrigen Sträucher kaum, die leichte Schnitte in meiner Strumpfhose hinterließen. Ein Schauer zog über meinen Rücken, als mich eine sanfte Brise erreichte und die losen Strähnen meiner braunen Haare in sich wob. Das Rascheln der Blätter in den Baumkronen hörte sich in meinen Ohren wie ein geheimnisvolles Flüstern an, aus der Ferne vernahm ich eine fremde, süße Melodie, die ein Vogel vor sich herzwitschern musste. Alles in allem war es ruhig und friedlich, sodass ich immer tiefer hineinging, um meine wirren und traurigen Gedanken abzuschütteln.

Bis(s) zum Erwachen - Wie ein Déjà-vuWhere stories live. Discover now