Erklärungsversuche

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Der dröhnend laute Motor des Transporters klang wie Musik in meinen Ohren, als ich ihn startete. 

Ich hatte Charlie gesagt, ich wöllte mich bei den Blacks bedanken, dafür, dass sie ihm das Auto so billig verkauft hatten, oder so ähnlich. Irgendeine Ausrede musste ich ja anbringen, denn die Wahrheit wäre zu verstörend für ihn gewesen. Zwar hatte er auf meine Aussage hin, ich bräuchte keinen Wegbeschreiber, um zu ihnen zu finden, komisch die Augenbrauen gehoben, doch das war auch schon alles gewesen. Gutes Gedächtnis, ja klar.

Ich hatte nicht genügend Zeit darüber nachzudenken, wie ich Jake begrüßen sollte, denn ich raste – für mich eher unüblich – wie eine Wahnsinnige über die Straßen. Es standen mehrere Möglichkeiten zur Auswahl, doch nur eine hielt ich für akzeptabel: Erstens, ich konnte ihm um den Hals fallen, ihn vielleicht sogar erwürgen, und verständnisloses Zeug quasseln – dies war die Idee, die mir am besten gefiel. Zweitens, ich konnte ihn begrüßen, so wie es jeder normale Mensch tat, der eine Person zum vermeidlich ersten Mal traf, inwiefern ich das auf die Reihe bekommen würde; dazu müsste ich von seiner Tageslaune abhängig machen, ob ich ihm von meinem Traum erzählen konnte oder nicht. Oder drittens, ich konnte auf Abstand gehen und ihm meine Vorahnungen verschweigen. Die letzten beiden Vorstellungen waren grauenvoll, also blieb mir nichts anderes, so schien es, als die Erste zu wählen.

Das Geräusch, das der Chevy von sich gab, schien mich schon Meilenweit anzukündigen, denn als ich in die Einfahrt vom Haus der Blacks bog, lächelte mir schon mein allerliebstes Jacob-Lächeln entgegen. Und plötzlich sah ich sie, die guten alten Zeiten. Vor den Vampirgeschichten, vor dem Werwolfdrama, vor dem ganzen Chaos. Es war herzzerreißend. Aber trotzdem war ich … glücklich? Vielleicht, weil ich wusste, dass es doch noch einen letzten Lichtblick gab. Vielleicht, weil ich wusste, dass Jake, egal was ich jetzt sagen würde, immer für mich da sein würde. Vielleicht aber auch nur, weil ich diesen Ort so sehr vermisst hatte, seit ich ein Vampir gewesen war – oder geglaubt hatte, einer zu sein.

„Ich würde sagen – ich bin überrascht!“, hörte ich eine tiefe, vertraute Stimme sagen, als ich ausgestiegen war und die Tür hinter mir heftig zugeknallt hatte. Ich liebte diese Stimme. Sie war immer meine Sonne an wolkenbedeckten Tagen gewesen, hatte mich aus der Finsternis geholt und mir beigebracht, wie man lebte, obwohl man sich innerlich tot fühlte. Ich musste ernsthaft aufpassen, nicht zu verdattert rumzustehen, denn das wäre aufgefallen.

„Jake!“ Ich konnte mein Temperament nicht zügeln, und das wollte ich auch gar nicht. „Verdammt, hab ich dich vermisst!“ Ich sprang ihm um den Hals, wie vorhergesehen, und er war ausgesprochen perplex, schlang aber trotzdem seine Arme um meine Schultern. An seine alte, kühlere Körpertemperatur musste ich mich wohl doch erst wieder gewöhnen.

Er lachte. „Stimmt, wir haben uns ewig nicht gesehen“, sagte er. „Es waren … sehr viele Jahre, würde ich sagen. Um ehrlich zu sein wundert es mich, dass du dich überhaupt an mich erinnerst, Isabella.“

Ich seufzte. „Bella bitte, ja?“ Und dann grinste ich. „Woher wusstest du denn, dass ich es bin?“

„Mein Vater hat deinem Vater den Transporter verkauft, Bella. Das erklärt alles.“

Natürlich. „Ja, klar. Richtig.“ Dann sagte ich etwas total Bescheuertes, Dummes, Unüberlegtes und einfach nur Dämliches, als wollte ich dieses Gespräch unbedingt führen. „Ich hab dich wärmer in Erinnerung.“

Seine Verblüffung ließ nicht lange auf sich warten. „Wärmer?“

Sofort erfüllte unangenehme Hitze meine Wangen. Ich schaute mich um, hier war niemand zu sehen, doch ich wollte sicher gehen. „Gehen wir in deine Garage? Ich muss dir was erzählen.“

„Woher weißt du …“, doch er schüttelte nur den Kopf und folgte mir. Was er nicht wusste: Ich kannte mich ja aus.

Mein Hals wurde trocken, es wurde immer schwerer, zu schlucken. Ich hörte die polternden Schritte von Jake hinter mir und musste ein wenig lächeln, als ich mich daran erinnerte, wie sehr es mich geärgert hatte, dass alle so viel leiser waren als ich. Die Tür der Garage war offen, also konnte ich geradewegs hineingehen. Ich setzte mich auf einen alten Klappstuhl und faltete die Hände in meinem Schoß zusammen. Jake setzte sich vor mich auf den Boden.

„Ich brenne vor Neugier“, sagte er mit glitzernden Augen.

Ich seufzte. „Wart‘s erst einmal ab.“

Grüblerisch löste ich meine Hände voneinander, nur um sie kurz darauf wieder ineinander zu stecken. Dann atmete ich tief ein und aus. Schließlich hob ich meinen Blick und sah Jake an.

„Du wirst in den nächsten Minuten wahrscheinlich denken, ich sei verrückt, doch du musst mir glauben“, begann ich vorsichtig. „Du bist vielleicht der Einzige, dem ich das alles anvertrauen kann. Und wenn ich es keinem erzählen kann, darf, muss, wie auch immer, wenn ich es nicht tue, dann platze ich.“ Ich hielt inne.

„Ich verspreche dir, egal was du sagst, ich werde dich nicht für verrückt halten“, meinte Jake ernsthaft. „So, jetzt erzähl schon.“ Er wartete gespannt darauf, dass ich beginnen würde.

Ein letztes Mal füllte ich meine Lungen mit Luft.

„Also“, begann ich. Und plötzlich war es ganz leicht. Es sprudelte alles so schnell aus meinem Mund, dass selbst ich Schwierigkeiten hatte, meinen Worten zu folgen. „Es ist eigentlich total absurd und unmöglich. Aber ich bin eines Tages in Forks, also bei Charlie, angekommen, dann hab ich den Chevy bekommen. Am nächsten Tag ging ich das erste Mal auf die High School in dieser mickrigen, kleinen Stadt. Dort sah ich auch Edward Cullen und seine Familie zum ersten Mal. Ich hab mich bestimmt vom ersten Augenblick an in ihn verliebt, keine Ahnung. Und obwohl er mich auf Abstand halten wollte, kamen wir uns immer näher, durch meine Ungeschicktheit und die Eigenschaft, ständig in Lebensgefahr zu geraten. Ein Unfall mit einem Van, eine beinahe-Entführung, all das und noch viele andere lustige Dinge habe ich hinter mir. Und er hat mich immer wieder gerettet. Dann hab ich eines Tages herausgefunden, was er ist – du hattest mir an einem Tag, als ich mit Freunden hier war, alte Legenden über die Cullens erzählt – nämlich ein Vampir. Doch ich hab mich kein bisschen gefürchtet. Dann waren wir an einem Tag zusammen auf einer Lichtung, es war so traumhaft schön! Aber auch so unwirklich, das verstehe ich jetzt.

Der nächste Tag war so schrecklich“, fuhr ich fort, ohne jegliche Atempausen zu machen. „Er hat mich seiner Familie vorgestellt, dann sind wir Baseball spielen gegangen. Plötzlich kamen Nomaden, Laurent, Victoria und James, und letzterer war ein Tracker und hat meine Spur aufgenommen. Er hat mich verfolgt und wollte mich töten. Alice und Jasper, zwei von Edwards Geschwistern, sind dann mit mir nach Phoenix zurück, um mich in Sicherheit zu bringen, da hatte mich dieser James reingelegt und ich dachte, er hätte meine Mutter. Deswegen bin ich in ein Ballettstudio, wo er mir meine Mutter zurückgeben wollte, als Gegenleistung für mich, doch es war ein Trick. Er war kurz davor, mich zu töten, da kamen Edward und einige der anderen Cullens. James hatte mich gebissen, doch Edward hat mir das Gift ausgesaugt, deswegen war ich noch ein Mensch. Es ist alles so schrecklich verrückt! Dann kam der Abschlussball, an dem du noch einmal mit mir geredet hattest, du solltest mir von Billy ausrichten, ich solle mit Edward Schluss machen.“ Ich lächelte kurz.

„Dann, an meinem achtzehnten Geburtstag, passierte etwas, das mein Leben verändern sollte. Ich feierte ihn bei den Cullens zu Hause, schnitt mich an Geschenkpapier, Blut tropfte und sofort ging Jasper auf mich los, ich stürzte in einen Glastisch und in Sekundenschnelle war alles voller Blut. Nur Carlisle – Edwards Vater und Arzt – bewahrte die Ruhe und half mir, die Wunden zu heilen. Für mich war die Sache danach vergessen, es war nicht mehr wichtig. Doch Edward sah das nicht so gelassen. Wenige Tage später machte er mit mir Schluss und seine Familie zog um – ein Schock für mich, wenn dieses Wort überhaupt erklären kann, was ich für Qualen durchgemacht habe. Er sagte, ich wäre nicht gut für ihn und er wollte mich nicht mehr, es tat so verdammt weh. Doch Gott sei Dank hatte ich dich. Du hast mir geholfen, wieder zu atmen, wieder zu lachen, wieder zu leben. Nur durch dich konnte ich die Bella sein, die ich nicht mehr gewesen war, seit er gegangen war. Und du hattest dich in mich verliebt. Aber ich konnte das nicht erwidern, für mich warst du nur mein bester Freund Jacob, mein Licht im Dunkeln, meine Sonne in der Nacht. Wir machten eine Menge Blödsinn, Motorrad fahren und von Klippen springen, doch plötzlich warst du nicht mehr derselbe. 

Und da passierte das, was dein Leben veränderte.“ Jake’s Augen waren schon riesig geworden und aus den Höhlen getreten, doch jetzt hatte er sich unheimlich nahe zu mir gebeugt. „Du wurdest zu einem Werwolf, wie die Legenden es vorausgesagt hatten. Du ließt mich allein und ich war wieder die leere Hülle, die ich vorher gewesen war. Ich sprang aus Spaß von einer Klippe, wäre fast ertrunken, doch du hast mich gerettet – wieder einmal. Ich ging nach Hause und plötzlich stand Alice da. Sie kann in die Zukunft sehen und sah, wie ich von der Klippe gesprungen und gestorben war, und war äußerst überrascht, mich zu sehen. Dann kam ein Missverständnis nach dem anderen und letztendlich lief es darauf hinaus, dass ich nach Italien musste, um Edward zu retten. Dann, als wir wieder bei mir zu Hause waren, erklärte er mir alles. Er wollte mich nur vor sich selbst schützen. Es ist eine echt lange Geschichte.“ Zum ersten Mal seit langem atmete ich tief ein und aus. Die Sekunden verstrichen.

Ohne Jake eine Chance zu geben, etwas zu sagen, erzählte ich weiter. „Dann tauchte eine der drei Nomaden, die mich anfangs töten wollen, Victoria, wieder auf und es entwickelte sich ein langer Kampf, bei dem es um mehr als nur Leben und Tod ging. Es ging darum, dass Vampire und Werwölfe zusammen, Seite an Seite, kämpften, gegen Victoria, für mich.“ Die Details, dass ich ihn auch geliebt und er sich ständig mit Edward konkurriert hatte, ließ ich lieber weg. „Edward tötete Victoria und vorerst war alles soweit gut. Das war auch die Zeit, in der er mir einen Heiratsantrag gemacht hatte. 

Wir heirateten, machten Flitterwochen auf Esmes Insel – Esme ist Edwards Mutter – und ich wurde schwanger. Alle waren gegen das Kind, ich konnte sie nicht verstehen. Sie sagten, es würde mich töten, doch das war mir egal. Ich liebte es, egal was es war. Du standest vollkommen hinter mir und den Cullens, zusammen mit Seth und Leah – beide waren Werwölfe –, im Gegensatz zu Sam und den anderen – auch Werwölfe, Sam war der Leitwolf gewesen. Ihr gründetet euer eigenes Rudel. Dann brachte ich meine – unsere – kleine Renesmee, Nessie, zur Welt. Die Geburt war so schwer für mich zu überwältigen, ich wäre gestorben, hätte Edward mich nicht auch zu einem von ihnen gemacht. Drei Tage lang litt ich Höllenqualen, doch plötzlich war es vorbei. Es war alles so … neu, so unbegreiflich. Ich hatte eine hervorragende Selbstbeherrschung, und somit konnte ich mich schnell selbst um mein Baby kümmern. Sie wuchs schneller als andere, normale Kinder heran. Schon mit drei Wochen war sie so groß wie eine Einjährige, sie konnte sprechen und hatte eine besondere Gabe, wie Edward und ich.“ Ich entschied, auch den Teil mit der Prägung vorerst wegzulassen.

„Und dann“, sprach ich weiter, Jakes Augen waren immer noch gebannt auf mich gerichtet, „geschah wieder ein Missverständnis. Ein verhängnisvolles. Es endete damit, dass die Volturi – sozusagen die Ordnungshüter der Vampire – bei uns vorbeischauten und Nessie töten wollten, es ist so schwer zu erklären. Doch das war nicht der einzige Grund für ihr Kommen, sie wollten auch noch ein paar nützliche Talente für sich gewinnen, waren sich ihrer Sache unsagbar sicher. Doch wir gewannen gegen sie, wenn auch vorerst, und alles wendete sich zum Guten. Wir führten ein herrliches Leben, selbst Charlie wusste Bescheid und konnte bei uns sein. Du warst ständig da, alles war so harmonisch. Wie in einer riesengroßen Familie.

Und jetzt, das, was mich so hysterisch klingen lässt: Dann wachte ich auf, im Flugzeug nach Port Angeles. Zuerst dachte ich, super, es war ein Traum, und jetzt? Doch als Charlie mir erzählte, er hätte mir einen Chevy gekauft, einen alten aus dem Baujahr 1960, da wurde mir klar, ich müsste es wenigstens versuchen. Ich würde versuchen, oder besser herausfinden, ob alles wirklich so passieren würde, wenn ich nichts daran ändere, wie es in meinem Traum passiert ist.“ Unsicher schaute ich ihn an und nahm einen langen Atemzug. „Bitte, keine Psychiatrie!“

Jake blinzelte kurz, und ich dachte, er würde gleich losbrüllen vor Lachen, doch er blieb stumm, ja er sah sogar ernst aus. 

Dann, irgendwann, begann er zu flüstern.

„Ich wundere mich gerade über mich selbst, es lässt mich an meinem Verstand zweifeln – von deinem ganz zu schweigen –, aber ich glaube dir. So absurd es sein mag. Ich finde, da ist was dran, irgendetwas, das mich glauben lässt, es könnte so sein.“

„Heißt das, du rufst nicht in der Klapse an?“, fragte ich hoffnungsvoll.

Er schüttelte lachend den Kopf. „Nein, du Dummerchen. Selbst wenn ich das alles nicht wirklich miterlebt habe und ich dich ehrlich gesagt nicht sonderlich gut kenne, muss ich schon sagen … ich vertraue dir, was deine Geschichte angeht.“ Unsicher nahm er meine Hand. „Und ich kann dir eine klitzekleine Gewissheit geben, was die Cullens angeht. Es gibt die nämlich wirklich, alle sieben.“

Mein Rachen fühlte sich an, als hätte ich meine eigene Zunge verschluckt. „Ist das dein Ernst?“

Jake nickte. „Klar ist das mein Ernst, bei so etwas mache ich keine Scherze. Mein Vater hält zwar nicht so viel von ihm, aber bei allen anderen ist Carlisle Cullen ein sehr angesehener und beliebter Arzt. Das Forks Hospital ist ziemlich stolz, ihn im Team zu haben.“

„Was ist mit den Legenden, Jake?“, fragte ich, geladen vor Anspannung. 

„Sie bestehen, heute wie damals, als man sie das erste Mal bei einem Lagerfeuer erzählte. Und sie besagen dasselbe, was du mir eben geschildert hast.“

Ich vergaß, wie man atmete. Und das nicht nur metaphorisch, sondern in Echtzeit und Farbe. Ich bemerkte es erst, als sich meine Lungen schmerzhaft in meiner Brust zusammenzogen und Jake mir auf den Rücken klopfte.

„Atmen, Bella, atmen!“

Es gibt sie wirklich! Es gibt sie wirklich! Es gibt sie wirklich!, schrie es in meinem Kopf. Gäbe es Worte für ein solches Glücksgefühl, ich hätte sie nicht zu einem Satz aneinanderreihen können.

Nach einiger Zeit, in der Jake mich nur zweifelnd angesehen hatte, schien sich mein Körper wieder beruhigt zu haben und auch Dinge wie Herzschlag und Atmung normalisierten sich. Beinahe konnte ich selbst spüren, wie meine Augen vor Freude zu glitzern anfingen. 

Als ich auch wieder glaubte, sprechen zu können, lehnte ich mich nach vorn und umklammerte erneut Jakes Schultern. „Was würde ich nur ohne dich tun, Jake?“

„Platzen, glaub ich.“

Dann umhüllten uns das gemütliche Licht der Glühbirne, die an der Decke der Garage hing, und unser schallendes Lachen. Diesem folgte ein wohliges Schweigen. Ich wollte nicht reden, weil ich meinen eigenen Gedanken nachhing, und er wollte nicht reden, weil er nicht wusste, was er sagen sollte. Und dieses Schweigen fühlte sich gut an.

„Und ich hatte mich in dich verliebt, ja?“, fragte er nach einer Weile und brach somit die Stille.

Ich nickte. „Hm-hm.“

Es sah aus, als dachte er über etwas nach; ich kannte ihn ja gut genug, um das einschätzen zu können.

„Wieso fragst du?“

Jake wurde rot. „Och … nur so.“

Ich griff nach seiner anderen Hand und umfasste sie mit meinen kleinen, zierlichen Händen. „Danke.“

„Was hab ich denn jetzt schon wieder angestellt?“, fragte er lachend.

„Mir zugehört“, sagte ich. „Mich vor dem platzen bewahrt. Mich nicht für bekloppt erklärt. Mir geglaubt. Das sind schon mal vier Dinge, für die ich dir dankbar bin.“

Er schüttelte den Kopf. „Nicht der Rede wert.“

Ich konnte nicht sagen, wie lange wir so dasaßen, doch für mich fühlte es sich wie eine geraume Ewigkeit an. Keiner sagte ein Wort. Die ganze Zeit über lagen meine Augen auf seinem Gesicht, seine waren auf den Boden gerichtet. Seine großen, dunkelbraunen Augen, seine vollen Lippen, seine rostbraune Haut, seine schwarzen, langen Haare, die wieder – oder immer noch – sie so lang waren, dass sie über seine Schultern reichten; all diese eigentlich unbedeutenden Kleinigkeiten füllten mein Herz mit Wärme. Es war wie in alten Zeiten, wie früher – oder wie in Zukunft? Ich wusste es nicht. Der kleine Tadsch ma Hal von Washington. Ich schmunzelte. Trotz dass mir so unheimlich viel fehlte, so viel, dass ich es nicht beschreiben konnte, fühlte ich mich auf eine eigenartige Weise wohl und komplett. 

Irgendwann war es meiner Meinung nach dann doch zu still. Ich wollte wieder seine Stimme hören, den herzlichen und noch kindlichen Unterton, der damals immer darin gelegen hatte und es jetzt noch tat.

„Ich wundere mich, dass …“, begann ich, wusste aber nicht wirklich, wie ich es sagen sollte.

„Was?“

Dann fiel es mir ein. „Du hast mir so schnell geglaubt. Bist du auch wirklich gesund?“

Wieder ertönte sein schallendes Lachen. „Mit geht es gut, soweit ich weiß. Du würdest überrascht sein, wenn du wüsstest, wie überzeugend du sein kannst.“

„Bin ich das?“ Das war irgendwie schwer vorstellbar. Wie konnte man einem Mädchen glauben, das zu Unfällen verurteilt war, das so tollpatschig war, dass es schon krankhaft sein musste? Ja, sehr schwer vorstellbar.

Jake nickte. „Finde ich jedenfalls.“

„Ich werd‘s mir merken und später darauf zurückkommen, wenn ich dir etwas vorspielen muss.“

„Charlie hat mich vorgewarnt“, sagte er grinsend. „Er sagte, du würdest sehr schlecht lügen. Man könne es dir an der Nasenspitze ablesen, meint er. Aber ich kann im Moment nichts als die Wahrheit sehen.“

Ich war entsetzt. „Charlie hat was?“

„Sprich ihn ja nicht drauf an. Ich würd meinen Kopf gern noch eine Weile behalten.“

Ich schüttelte den Kopf. Unverschämtheit. „Nein, werd ich nicht. Immerhin will ich doch keinen zukünftigen, kopflosen besten Freund!“ 

Plötzlich klopfte es an der Blechwand. „Jacob?“

Es war Billy. Wir beide schauten auf und sahen, wie er seinen Rollstuhl mit geschickten Handbewegungen in unsere Richtung manövrierte. Als ich ihn ansah, breitete sich ein Lächeln auf meinen Lippen aus. Sein sonst ernst aussehendes Gesicht zeigte auch ein kleines Schmunzeln, wobei sich seine ledrige Haut über seinen Mundwinkeln in kleinen Fältchen zusammenzog. 

Dann wanderte sein Blick zu Jake und er sah ihn fragend an. „Wieso hast du mir denn nicht gesagt, dass Bella da ist?“

„Hab ich vergessen.“

„Naja, egal“, sagte er und schüttelte seinen Kopf. Dann sah er wieder mich an. „Hallo Bella, schön dich zu sehen.“

Ich nickte. „Ja, ich freu mich, hier zu sein.“

Jake und ich tauschten einen vielsagenden Blick, bis Jake fragte: „Was ist los, alter Mann?“ Frech war er also auch noch, dachte ich und freute mich darüber. Es wurde immer besser.

Ein kurzes, bellendes Lachen drang aus Billys Mund. „Man kann sich ja nicht dagegen wehren, oder?“

Doch, dachte ich und musste mir auf die Lippe beißen, um es nicht auszusprechen. Die Versuchung war wirklich zu groß, ich befürchtete, dass es bald bluten würde. Aber niemanden hier würde das stören … ich seufzte. Keiner der beiden bemerkte meinen kleinen, inneren Wortwechsel.

„Ich wollte dich eigentlich nur fragen, ob du mal einkaufen gehen kannst,“ fuhr Billy fort.

„Jetzt? Hmm … ist es okay, wenn wir zusammen gehen und du mich danach nach Hause fährst, Bella? Wenn ich schon mal die Möglichkeit bekomme, nicht laufen zu müssen, muss ich sie doch auch nutzen“, sagte er dann lächelnd an mich gewandt.

„Öhm … klar.“

Die Autofahrt verlief ruhig. Während ich fuhr, beobachtete ich die Scheinwerfer, wie sie bei jeder Kurve um die Hausecken huschten. Es war immer noch alles so ungewohnt. Die Luft, die ich einatmete, verursachte keinen brennenden Schmerz in meiner Kehle. Meine Augen waren trüb und alles, was ich durch sie sah, war merkwürdig verschwommen. Beinahe hätte ich aufgelacht, als ich ein leises Grummeln aus meiner Magengegend hörte. Ja, ich musste auch wieder geregelte Mahlzeiten einführen. 

Bis(s) zum Erwachen - Wie ein Déjà-vuWo Geschichten leben. Entdecke jetzt