Ungewissheiten [Edward Cullen]

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Den ganzen Tag schon benahm sie sich merkwürdig.

Seitdem wir heute Morgen zur Schule aufgebrochen waren, war Alice nicht mehr sie selbst gewesen. Sie war bis aufs Äußerste aufgewühlt und schien sich selbst nicht unter Kontrolle zu haben. Nun ja, weniger als sonst, meine ich. 

Ich durchforstete ihre Gedanken nach einem Anhaltspunkt oder einer Erklärung für ihr Verhalten, fand aber nichts. Schon als ich ihre mentale Stimme das erste Mal an diesem Tag erfasst hatte, dachte sie an nichts anderes als ein Blumenbeet im Frühling, überall blühten herrlich bunte Pflanzen und erfüllten die Luft mit ihrem lieblichen Duft; um alles abzurunden, schien die Sonne auf diese Idylle. Nur dieses Bild behielt sie im Kopf und ich kannte sie gut genug, um zu verstehen, was sie vorhatte; es war etwas im Busche, etwas Wichtiges, wovon ich absolut nichts erfahren durfte.

Edward, drangen jetzt Jaspers Gedanken an meine Ohren. Ich schaute nicht auf, sondern nickte nur unmerklich. Dann dachte er weiter.

Was ist mit Alice los? Sie benimmt sich sehr komisch, sagt mir aber nicht, was sie hat.

Ich zuckte die Schultern und sah ihn ratlos an. Er seufzte leise.

Woran denkt sie denn?

Da ich nicht wusste, wie ich ihm das ohne Worte erklären sollte, musste ich wohl sprechen. „Blumenbeet“, murmelte ich nur. Alice kicherte aufgedreht, sie klang beinahe ein bisschen hysterisch.

Weißt du, warum?

Wieder sah ich ihn unwissend an. „Ich darf es nicht wissen“, flüsterte ich, zu leise für menschliches Gehör.

Aber du weißt nicht, wieso?

Ich nickte. Noch einmal seufzte er leise, dann wandte er sich von mir ab und schenkte Alice wieder seine gesamte Aufmerksamkeit, die immer noch neben ihm saß und mit geweiteten Augen die Cafeteria nach etwas abzusuchen schien. Das Blumenbeet und die dazugehörige Idylle waren beinahe standhaft in ihren Kopf gemeißelt, sodass ich nicht gegen diese Facette ankommen konnte, so sehr ich es auch versuchen mochte.

Doch mit einem Mal schwankte ihr Bild und plötzlich veränderten sich auch all die anderen Gedanken um mich herum; die der normalen Schüler handelten jetzt von der Neuen an unserer Schule. Sie war nichts besonderes, für die verzweifelten Jungs aber doch interessant genug, um einem neuen Spielzeug gleichzukommen. Sie war nicht unbedingt herausragend oder sonderlich hübsch, so wie ich sie in den Köpfen der anderen gesehen hatte. Alice schaute sich jetzt ständig um, blickte immer wieder zu diesem Mädchen, das gerade mit ein paar anderen aus ihrem Kurs den Saal betreten hatte. Wieder und wieder wackelte die Idylle in ihren Gedanken, manchmal glaubte ich, endlich einen Blick hinter diese Fassade werfen zu können, doch da wurde sie schon wieder gestrafft und unzugänglich für mich gemacht. Das Mädchen setzte sich mit einer Limoflasche in der Hand an einen Tisch, an dem viele andere Schüler saßen und wurde von allen Seiten angesprochen; es schien ihr ziemlich peinlich zu sein, denn sie antwortete immer knapp und leise. 

Es wurde frustrierend. Ich schaute direkt auf das Mädchen, hörte jedoch nur ab und zu ihre ausgesprochenen Worte, ihre mentale Stimme war stumm. So etwas war mir noch nie untergekommen; so sehr ich mich auf sie konzentrierte, es funktionierte nicht und mit jeder Sekunde wurde meine Miene finsterer, das spürte ich. Alice bemerkte meine Unzufriedenheit und ihr Gesicht bekam ein seltsames Strahlen, ihre Augen glitzerten, als freute sie sich über irgendetwas Urkomisches riesige Löcher in den Bauch. Nie hätte ich jemals damit gerechnet, aber jetzt war der Punkt gekommen, an dem ich die Welt nicht mehr verstand. 

Für einen kurzen Moment warf das Mädchen einen Blick in unsere Richtung und ich konnte förmlich beobachten, wie ihr Gesicht traurige und schmerzverzerrte Züge annahm. Eine Erklärung hatte ich dafür aber nicht.

„Bella, ist alles in Ordnung?“, fragte Jessica sie bestürzt. Ich mochte sie nicht, sie war unfreundlich und ihre Gedanken waren meist bösartig gegenüber anderen Personen.

Ist sie so geschockt von der Schönheit der Cullens?, fragte sie sich. Ich schnaubte.

Die Neue nickte und erhob sich, ihre trübseligen Augen auf den Boden gerichtet. „Es ist alles noch ein bisschen viel für mich. Ich werd mal an die frische Luft gehen.“ In ihren Gedankengängen herrschte weiterhin gähnende Leere.

Was ist zu viel für sie?, dachte Jessica, als sie fortging, dann wandte sie sich schnell wieder Mike zu, der gerade etwas erzählte. Ohne zu wissen, wieso, interessierte mich, was mit ihr los war, obwohl es völlig falsch und unverantwortlich wäre es herauszufinden.

Als sie eilig davonging, ignorierte sie Eric. „Aber es regnet doch, du wirst dich vielleicht erkälten!“, rief er ihr nach. Sie drehte sich nicht um, sondern lief weiter geradeaus. Ihre Beine bewegten sich trotzig und ungeschickt, wahrscheinlich war sie ziemlich tollpatschig. Kurz bevor sie den Saal verließ, drehte sie sich noch einmal um und schaute zu Alice, die jetzt völlig auszuflippen drohte. Ich wurde von Moment zu Moment zorniger und das schien das Mädchen aus dem Augenwinkel sehen zu können, denn sie sah wieder enttäuscht aus. Mehr noch als zuvor.

Ein Blumenbeet, denk an ein Blumenbeet, Blumen und Wiese, die Sonne scheint, alles ist wunderbar …, schnappte ich von Alices Gedanken auf.

Ich blickte sie an und sah, wie ihre Augen wieder zu funkeln anfingen. Einen endlosen Augenblick lang verharrten sie auf denen des Mädchens, als könnte sie durch sie hindurch in ihre Seele schauen. Da fiel mir zum ersten Mal auf, wie merkwürdig die Augen der Neuen waren. Sie waren aus einem warmen, flüssigen Schokoladenbraun, ungewöhnlich tief und beinhalteten mehr Geheimnisse für mich, als es ihr vielleicht lieb war. Ich seufzte leise, als sie schließlich den Raum verließ. Ohne zu zögern, stand Alice auf und lief ihr nach. Ich konnte ein Knurren meinerseits nicht verhindern.

Was tut sie da?, kam es von Jasper.

Geht sie zu dem Mädchen?, fragte sich Emmett, der neben mir saß.

Die sind doch alle verrückt, dachte Rosalie und zischte gefährlich. Ihrer Meinung konnte ich zweifelsohne zustimmen, zumindest was Alice betraf.

So sehr ich es auch versuchte, ich konnte nichts von alledem hören, was Alice jetzt mit diesem Mädchen besprach; um uns herum war es einfach zu laut, sowohl mental als auch verbal. Ab und zu konnte ich zwar einen Gedankenfetzen von Alice aufschnappen, doch da sie weiterhin unverändert an ein Blumenbeet dachte und mir die Gedanken der Neuen, die Alices Aufmerksamkeit auf so seltsame Weise auf sich zog, noch immer verborgen blieben, tappte ich weiterhin im Dunkeln. Lauschen dieser Art gehörte eigentlich sowieso nicht zu meinen Vorgehensweisen. Aufzustehen und mich an die Wand zu stellen, um so mithören zu können, wäre noch schlimmer, befand ich. Also beließ ich es dabei, dass ich einfach nur dasitzen und überlegen konnte, wie ich durch dieses Gedankenbild brechen sollte.

Bis(s) zum Erwachen - Wie ein Déjà-vuWhere stories live. Discover now