Prolog

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Nevidian Cyrell saß regungslos auf den kalten Mamorstufen vor einem großen, hellgelb gestrichenen Haus. Immer wieder liefen Menschen vorbei, die den Neunzehnjährigen aber nicht beachteten. Einzig und allein eine Katze mit grauem Fell und gelben Augen schien ihn überhaupt zu bemerken, da sie sich unmittelbar neben ihn gesetzt hatte und sich von dessen warmer Hand streicheln ließ, die über ihr Fell glitt während Nevidian nachdenklich in die Ferne sah.

Ein orangenes Blatt löste sich von einem Ahornbaum und wurde von dem leichten Herbstwind zwanzig Meter weit weggeweht, wo es schließlich geräuschlos zu Boden fiel. Dort lag bereits eine dünne Schicht anderer Blätter und Nevidian versuchte sich zu merken, welches der Blätter er soeben mit dem Auge verfolgt hatte. Eigentlich sind wir auch alle wie orangene Blätter von Ahornbäumen. Wir wachsen und gedeihen, doch irgendwann, wenn die Zeit reif ist, werden wir von einem Wind vertrieben, der uns aus dem Leben wegweht. Noch kurz erinnert man sich an uns, doch irgendwann sind wir nur ein Blatt von vielen auf dem laubübersäten Boden- ein Mensch von vielen, der das Leben verlassen hat, dachte Nevidian und zuckte kurz zusammen, als er die Wörter, die sich in seinem Kopf gebildet hatten, laut aussprach. Normalerweise war er nicht so pessimistisch und voller harter Worte. Er war ein lebensfroher, stets positiver Mensch aber seit-

Eine Frau riss ihn aus seinen Gedanken. Sie steuerte geradewegs auf ihn zu und Nevidian konnte nicht anders, als sie traurig anzublicken, als er ein Stück zur Seite rückte, damit sie die Treppen nach oben gehen konnte, ohne gegen ihn zu treten. Die Zeit schien wie verlangsamt und der Junge blickte sehnsüchtig in das rundliche Gesicht der Frau. Ihre hellblonden Haare fielen ihr in das Gesicht, als sie sich vorbeugte und in ihrer großen, schwarzen Handtasche nach dem Schlüssel zu kramen begann. Sie trug einen hellblauen Mantel, der leicht im Wind wehte und ihre Augen sahen müde aus, als hätte sie einen stressigen Tag hinter sich gehabt.

Als sie den metallenen Gegenstand gefunden hatte, richtete sie sich wieder auf.

,,Wie konnte das nur passieren?", flüsterte Nevidian traurig in die Richtung der Frau. Diese kniff ihre Augen zusammen, drehte sich leicht um und ließ ihren Blick verwirrt über die Stufen gleiten, direkt durch den Jungen hindurch. Nach ein paar Sekunden, in denen sie scheinbar nichts besonderes erkennen konnte, wandte sie sich wieder dem Öffnen der Tür zu. Nevidian hingegen hielt bedrückt seinen Blick gesenkt und kämpfte gegen die Tränen an.

Kurz überlegte er, der Frau in das Haus zu folgen, verwarf diese Idee dann aber. Er könnte diesen Anblick nicht aushalten. Den Anblick von einem Mann und einer Frau, die ein scheinbar sorgloses Leben führten. Den Anblick von einem Mann und einer Frau, die ihren Sohn vergessen hatten.

,,Ihr werdet mich wieder sehen können, das verspreche ich", murmelte Nevidian tonlos bevor er sich aufrichtete- bereit zu gehen.

So nah und doch so fern | BoyxboyWhere stories live. Discover now