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Er sah in den Spiegel und erwartete einen geschockt und dennoch verschlafen aussehenden Nevidian Cyrell, doch was er nun erblickte ließ ihn für einen Moment das Atmen vergessen.

Er wich einen Schritt zurück, starrte fassungslos in den Spiegel. Nun war ihm auch zum Kreischen zumute. Oder zum um-sich-schlagen. Oder zum sich-heulend-in-der-Ecke-verkriechen. Er konnte es nicht genau sagen.

Erneut durchzuckte ihn ein heftiger Schmerz, der ihn beinahe auf die Knie sinken ließ. Mit schmerzverzogenem Gesicht zwang er sich dazu, aufrecht stehen zu bleiben und abzuwarten, bis das Rauschen in seinem Kopf, dass dem des Meeres im Sturm glich, abebbte. Wieder und wieder starrte er in den Spiegel, dieser harmlose Gegenstand, der ihn beinahe in den Wahnsinn trieb. Denn dort wo man sich normalerweise betrachtete, sein Aussehen richtete oder sich auch gelegentlich die Haare raufte, sah er- nichts. Doch, er sah etwas. Die weiße Wand, vor der Nevid stand. Er selbst allerdings war nicht zu erkennen. Es war als wäre er- unsichtbar...

Nevid sah an sich herab. Normal. Er konnte seine Beine sehen. Seine Arme. Seine Hände, die sich nun zitternd kneteten. ER konnte sich sehen. Doch der Spiegel zeigte sich nicht und auch seine Eltern hatten ihn scheinbar nicht erkennen, geschweige denn sich an ihn erinnern können.

Das Rauschen in seinem Kopf hatte nachgelassen und Nevid wollte bereits erleichtert ausatmen, als er plötzlich diese Stimme hörte. Sie war klar und deutlich, als würde die Person neben ihm stehen und dennoch hatte er sie noch nie zuvor gehört. Sie klang rau und kalt und er hätte alles dafür getan, sie loszuwerden. Und auch was sie sagte ergab für ihn in diesem Moment keinen Sinn.


>>Wirst du geliebt, wirst du gesehen <<

Es wurde ihm alles zu viel. Seine Situation. Die Schmerzen. Das Rauschen. Die Stimme. Kraftlos sackte er an der Wand herab und blieb regungslos auf dem kalten Boden sitzen. Seine dunkelblauen, sonst nur so vor Lebensfreude strahlenden Augen, starrten matt in die Leere. Das konnte doch alles nicht sein! Das war bestimmt nur ein Albtraum! Doch so sehr er auch versuchte, sich dies einzureden, blieb die Gewissheit, dass es genau das nicht und doch gleichzeitig war. Ja, es war ein Albtraum. Doch eben kein Traum. Eher ein Albleben. Na toll, dachte er, jetzt ergeben schon meine Gedanken keinen Sinn mehr.

Ein leises Schluchzen entwich seiner Kehle, als die Tränen ihm die Wangen hinunter rannen. Er wollte weg. Wieder zurück in sein altes Leben. Gesehen werden. Er war seit ein paar Stunden unsichtbar, genau das, was so viele- und er auch- sich so oft gewünscht hatte, und doch hatte er bereits jetzt genug. Er könnte nicht einfach mit seinen Eltern reden, wie er es sich früher vorgestellt hatte. Sie wussten nichts von ihm. Sie wussten verdammt noch Mal nicht, dass sie einen neunzehnjährigen Sohn hatten!

Mit dem rechten Ärmel wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht. Ist eh egal wie ich aussehe, dachte Nevid bitter, mich sieht sowieso niemand.

Er musste raus hier, frische Luft schnappen. Nachdenken. Es konnte doch nicht so schwer sein, dass sich jemand in ihn verliebte! Denn falls diese gruselige Stimme in seinem Kopf es ernst gemeint hatte, so würde mit der Liebe auch gleichzeitig sein Aussehen und -wie er hoffte- die Erinnerung an ihn wieder erscheinen.

Doch wer würde schon einen unsichtbaren Jungen lieben?


So nah und doch so fern | BoyxboyTahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon