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Es war ein grauer, ungemütlicher Herbsttag und so war es kein Wunder, dass die Straßen wie leergefegt wirkten. Der Regen prasselte erbarmungslos auf den Asphalt und die Temperaturen waren unter 10 Grad gesunken, obwohl es erst Anfang September war. Hier und da konnte man durch den dichten Regen die Silhouette eines Hauses erahnen, in dem Familien und einzelne Menschen saßen, die sich an diesem Donnerstagnachmittag wohl nicht mehr vor die Türe begeben würden.

Auch das Café Mariposa, das direkt im Zentrum des Städtchens lag, war nur spärlich besucht, vor allem von Erwachsenen, die gerade von der Arbeit kamen und sich so lange im Trockenen aufhalten wollten, bis der Regen nachließ. Insgesamt waren es lediglich acht Personen, die vereinzelt mit einer dampfenden Tasse vor sich an den Tischen saßen und Zeitung lasen oder auf ihren Handys herumtippten. Keiner von ihnen schien den neunzehnjährigen Jungen mit den weißblonden Haaren zu bemerken, der einsam in der Ecke saß und in die Leere starrte.

Hier saß er bereits seit zweieinhalb Stunden beinahe regungslos und hing seinen Gedanken nach. Er schien das rege Treiben um sich herum nicht wahrzunehmen und kaute ununterbrochen auf seiner an manchen Stellen bereits blutigen Unterlippe herum. Seine Augenringe waren dunkel und zeugten von schlaflosen Nächten und auch seine zerknitterten Klamotten schienen schon seit geraumer Zeit nicht mehr gewechselt worden zu sein.

Morgen gehe ich zu H&M, dachte der Junge, der auf den Namen Nevidian Cyrell hörte. Für diesen Beschluss hatte er lange gebraucht, um genau zu sein vierunddreißig Minuten und wenn man sein Lage nicht kennen würde, würde man denken, er hätte einen an der Klatsche. Ich hasse stehlen.  Dann rührte er den Löffel in seiner Tasse herum, bevor er einen Schluck heißen Kakao nahm. Vorher war der Kellner kurz unaufmerksam gewesen und so hatte er sich die Tasse unbemerkt von dem Tablett nehmen können. Als der Kellner wiederkehrte war dieser kurz verwirrt, schien sich das Fehlen der Tasse, von der er sich so sicher gewesen war, sie gefüllt zu haben, schließlich mit Einbildung zu erklären.

Nevid war nie jemand gewesen der Menschen beklaut hatte. Er hatte es sich bereits als Kind nie getraut auch nur fünfzig Cent aus dem Geldbeutel seiner Eltern zu nehmen um sich Süßigkeiten zu kaufen. Und dennoch war es ihm jetzt gerade in seiner Situation nicht möglich, irgendwie anders zu überleben. Er musste Klauen, so sehr er es auch hasste. Denn Nevid war kein normaler Junge oder eher Mann, der einfach eine Bestellung aufgeben konnte oder sich in einer Schlange anstellen musste um Klamotten zu kaufen.

Es war ihm nicht möglich und er hasste dieses Gefühl. Er wollte endlich wieder normal sein. Er wollte wieder seiner Tätigkeit als Praktikant in einer Schule für geistig behinderte Kinder nachgehen. Er wollte sich wieder mit seinen Freunden treffen und mit ihnen ins Kino gehen. Er wollte wieder Gitarre spielen. Er wollte verdammt noch Mal wieder all die Dinge tun, die jeder Mensch tun konnte. Jeder Mensch außer er selbst.

Je länger er so regungslos dasaß, desto hoffnungslos erschien dem Jungen seine Lage. Nur ungern aber dennoch sehr deutlich erinnerte er sich an diesen einen bestimmten Tag, der sein Leben verändert hatte.

Es hatte keine Dämonenbeschwörung gegeben, Nevid hatte auch nicht den Teufel mit irgendwelchen obskuren Ritualen beschworen, es war kein Freitag der dreizehnte gewesen und soweit er wusste, hatten auch die Sterne an jenem Tag nicht in einer besonderen Konstellation am Himmel gestanden. Und selbst wenn dem so gewesen wäre, hätte Nevidian seine Situation nicht damit in Zusammenhang gebracht, er war kein abergläubischer Mensch. Aber dennoch war es offensichtlich irgendwie geschehen und der Junge würde alles dafür tun zu erfahren, wie so etwas passieren konnte- wie ein Mensch über Nacht unsichtbar werden konnte.

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So, das erste Kapitel ist da, ich hoffe es gefällt euch bis jetzt ❤!

Vielen lieben Dank für die ganzen Kommentare beim Vorwort und dem Prolog, womit habe ich es nur verdient, dass ihr alle so nett zu mir seid?!

So nah und doch so fern | BoyxboyWhere stories live. Discover now