Kapitel 14:

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Lieber James,
meine Ferien hier sind ganz in Ordnung. In ein paar Tagen ist ja sogar schon Weihnachten. Mein Vater interessiert sich sehr für die Politik der Zauberergemeinschaft, doch davon verstehe ich leider nicht viel. Sonst mag er nur noch Quidditch oder etwas über unseren Unterricht zu hören. Meistens sitzt er rauchend neben dem Kamin und liest etwas oder schaut fern.
Meiner Mutter kann ich alles erzählen ; sogar das mit dir. Nur leider ist sie oft in der Küche und dort kann ich ihr ohne Magie nicht viel helfen, denn Petunia verbringt ja fast jeden Tag Zeit in der Küche und hat mehr Erfahrung. Also hocke ich nur auf der Theke und rede. Sonst arbeitet meine Mutter im Wohnzimmer an einer Nähmaschine und fabriziert alles Mögliche, wobei sie Radio hört.
Mit Petunia kann ich überhaupt nichts unternehmen ; sie blendet mich gnadenlos aus. Als wäre ich überhaupt nicht da. Pure Schwesterliebe. Ich hab' ihr sogar ein Geschenk aus Hogsmeade mitgebracht, doch sie hat es nicht angenommen.
Sie kocht, stickt, strickt, putzt, liest und verschwindet in ihrem Zimmer. Sie schweigt mich an, weil ich sie ankotze.
Normalerweise mache ich vormittags meine Hausaufgaben, oder immer dann, wenn ich Zeit habe. Sonst treffe ich mich mit Freunden, sitze an der frischen Luft oder lese.
Manchmal schaue ich auch fern.
Ist es gut, immer beschäftigt zu sein mit irgendetwas? Um bestimmte Dinge auszublenden? Wie Petunia es bei mir tut?
Schreib' mir.
Ich liebe dich,
deine Lily.

Lily las sich den Brief mehrmals durch und verpackte ihn schließlich. Sie gab ihn ihrer Eule und ließ sie durch's Fenster hinaus fliegen.
Schließlich begab sie sich nach unten. Schon auf der Treppe umhüllte sie ein warmer, schöner Geruch: das konnte nur Grandma Evans' Roastbeef sein.
Sie war keine Fleisch-Fanatikerin, sie mochte es bloß. Und Grandma Evans' Roastbeef war weltbekannt. Naja, so gut wie.
Neugierig tänzelte Lily durch das Wohnzimmer zur Küche. Doch Grandma Evans war nicht da: ihre Mutter kochte nur das Rezept ihrer Großmutter nach.
Petunia assistierte sie eifrig. " Hi, Mummy. Kann ich euch helfen?"
" Deck' doch den Tisch, Lily, Liebes", antwortete Mrs. Evans lächelnd. Lily nickte und zog nacheinander Teller aus dem Schrank, holte Gläser heraus und zählte das Besteck aus der Schublade.
" Leg doch bitte ein fünftes Gedeck auf, Lily..." Mrs. Evans schnüffelte an der Vorspeise.
" Ein Gast? Wie schön", antwortete Lily und wiederholte bereitwillig die Prozedur.
Petunia und ihre Mutter wechselten verstohlene Blicke.
" Oh ja. Du musst wissen, Petunia... sie hat jemanden kennengelernt. Einen Jungen, er heißt Vernon Dursley und er ist sehr klug, weißt du Lily? Ich meine, uns wurde das Leben geschenkt, damit wir Erfolg haben und die Unklugen haben ganz bestimmt keinen. Lily, hol doch bitte den Rotwein", plapperte Mrs. Evans und goss viel zu viel Essig auf den Salat.
Lily öffnete die Kellertür und begab sich in den Weinkeller. Als sie wieder zurückkam, wurde sie von ihrer Mutter hochgeschickt, sie solle sich zurecht machen.
In ihrem Zimmer dachte sie über die Lebenseinstellung ihrer Eltern nach.
Sicherlich, sie waren gute Menschen, doch rückblickend hatten sie nur eine Sache im Kopf:
Erfolg.
Ihrer Meinung nach mussten man in absolut allen Dingen Erfolg haben.
In der Arbeit, in der Liebe, im Leben...
" Sonst wirst du einer von diesen erfolglosen Menschen; du siehst sie jeden Tag. Tragisch traurige, arme Gestalten voller Trübsal, die nichts im Leben haben oder erreicht haben. Nichts. Demnach sind sie selbst auch ein Nichts. Willst du ein Nichts werden, Liebes?", hatten sie immer gesagt.
"Willst du ein Nichts werden...", wiederholte Lily traurig.

Als sie wieder nach unten kam, klingelte es. Petunia sprang auf und strich sich die Haare glatt.
Lächelnd lief sie steif auf die Haustür zu und öffnete sie.
Lily überkam ein Lachanfall, den sie als Husten tarnte. Nur der fremde Junge durchschaute es.
Er war der Fetteste, den Lily je gesehen hatte. Er besaß keinen Hals, dafür aber einen sehr speckigen Bauch und einen leichten Schnauzer. Gel ließ seine braunen Haare ekelerregend schimmern; sein Gesicht war noch ekelhafter. Er lachte und umarmte Petunia, die nervös kicherte.
Oh mein Gott, dachte Lily und atmete tief ein und wieder aus.
Alle schüttelten ihm höflich die Hände und lächelten : Lily war die Einzige, bei der normale Menschen es für natürlich gehalten hätten, obwohl sie im Moment am wenigsten natürlich lächelte .
Wen hatte Petunia da bloß an Bord geholt?
Doch Lily beschloss intelligenterweise, nichts zu sagen und nur lächelnd das Roastbeef zu genießen. Sie dachte über die schönen Zeiten mit James nach, wie sie auf den Ländereien gepicknickt hatten, sie ihm mit Geschichte der Zauberei geholfen hatte und wie sie sich geküsst hatten.
Es war schon lustig: zuerst hielt sie ihn für einen arroganten Widerling und hasste ihn bis aufs Tiefste und jetzt gehörte er zu den wichtigsten Menschen in ihrem Leben.
" ... Lily!" Lily schreckte hoch.
Petunia starrte sie wartend an. Offensichtlich hatte Vernon sie etwas gefragt und keine Antwort erhalten.
" Entschuldige, ich habe nachgedacht. Was hast du gefragt?" Lily schaute ihn höflich an.
" Ich habe gefragt, wo du zur Schule gehst", grunzte er.
" Hogw...", setzte Lily an, doch Petunia trat ihr so heftig ans Schienbein, dass Lily stoppte und automatisch umschaltete.
" Das St. Jane, ein privates Internat. Liegt in Schottland. Ich bin sehr schüchtern, weißt du?", antwortete Lily ruhig.
Vernon nickte, nicht ganz überzeugt.
Doch Petunia meinte: " Ich war schon mal dort. Igitt. Eine solch hässliche Einrichtung hast du noch nie gesehen. Total geschmacklos. Aber zurück zum Thema Hobbies. Du bist also in einem Bau-Verein?", schmunzelte Petunia und klimperte heftig mit den Wimpern.
Lily nahm einen Schluck eiskaltes Wasser und aß weiter. Das konnte ein langer Abend werden.

тне мaurauders ~ eine erinnerung {fanficтion}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt